Sarah Kuttner – Die Kolumne
Liebe Brieffreunde, wenn euch diese Zeilen erreichen, bereite ich mich gerade auf meine erste große Tournee vor. Es ist eine Lesetour, was bedeutet, dass ich durch Deutschland gurken und aus einem Büchlein vorlesen werde. Es scheint da einen Markt für zu geben, was ich an dieser Stelle aus persönlichen Gründen ausdrücklich begrüßen möchte. Eine kürzere Lesetour durfte ich bereits vor einigen Monaten absolvieren. Daher sei an dieser Stelle alten Menschen, die sich mit dem Gedanken tragen, selbst einmal mit irgendwas auf Darbietungsreise zu gehen, gesagt: Alles, was an furchteinflößenden Klischees über Tourneen verbreitet wird, stimmt.
In der Regel wacht man morgens übernächtigt auf und fragt sich, in welcher Stadt man ist. Wenn der Blick aus dem Hotelzimmerfenster keinen erkennungsfördernden Eiffelturm o. a. bereit hält, ist davon auszugehen, dass man sich entweder in Chemnitz, Bielefeld oder in St. Bad Irgendwo befindet. Aus Verzweiflung über diese Desorientierung sucht man erst mal nach der Drogendose. Frustriert bemerkt man entsetzliche Knappheit in selbiger und wirft sie vor Wut aus dem Fenster. Unten auf der Straße stehen immer noch die drei Mitt-50er. die schon die ganze Nacht hindurch gekreischt und „Sarah, Sarah geschrieen haben. Einer wird von der Drogendose am Kopf getroffen und fälLt in ein Koma, was den Rest der Tournee in Form wenig positiver Negativpresse begleiten wird. Die anderen beiden schreien weiter. Nach diesem Vorfall: Frühstück mit der Crew. Wie man sich denken kann, reise ich mit einem Riesenteam, bestehend aus 45 Lichtroadies, 87 Sounddesignern, zwei Sachen-an-die-Wand-Projizierern und einem schrulligen Stagedesigner, der meine Bühnenaufbauten jeden Abend tagesaktuell an die jeweilige Stadt anpasst. Hinzu kommen die diversen Assistenten und Praktikanten der Lichtroadies und Sounddesigner. Ich kenne alle mit Namen und mache – ähnlich wie Madonna in“.In Bed With Selbiger“ knuffige kleine Scherze mit ihnen. Ständig sitzen irgendwelche Bühnentänzer bei mir auf dem Schoß rum, zu denen ich in während der Tournee mitgedrehten Dokus dauernd „Darling“ 0. ä. sage. Richtig, ich vergaß zu erwähnen: Ich habe auch etliche Bühnentänzer, und natürlich dreht Sönke Wortmann einen Film über das Ganze, der mich auch in weniger vorteilhaften Momenten zeigt. Das ist mir und Sönke wichtig. Kritiker werden schimpfen, dass auch diese Authentizität nur eine weitere Form der Inszenierung sei, aber das ist mir egal. Es gibt Wichtigeres zu tun; die Drogendose muss neu befülU werden. Es geht weiter in die nächste Stadt. Ich trage mich im dortigen Rathaus unter Blitzlichtgewitter ins Goldene Buch ein und besuche anschließend ein Waisenhaus. Beim Fototermin mit den Waisenkindern sage ich zu einem meinerTänzer „Darling“. Auf der Toilette des Waisenhauses kommt es endlich zum lang ersehnten Kontakt mit meinem Drogenlieferanten. Die Qualität ist gut. die Show am Abend wird fantastisch. Spontan stelle ich das Programm um und lese Teile der Hausordnung vor, der Saal tobt. Nach dem Auftritt: Katerstimmung. In einen Nerzmantel eingewickelt, sitze ich im Backstage-Raum und komme von den unzähligen Drogen runter. Jetzt hilft nur noch schnelles, brutales Petting mit viel zu jungen Groupies. Ich nehme zwei Zwölfjährige – meine Kernzielgruppe – mit ins Hotel, verliere sie aber beim von mir initiierten Aufzug-Wettfahren. Ich schaue noch eine Dokumentation über eine Lachsfarm in Stralsund, schreibe einen kurzen depressiven Herbsttext und falle trotz des Gejammers der beiden Zwölfjährigen unter meinem Fenster in einen alptraumreichen Schlaf. So läuft das auf Tourneen. Anthony Kiedis hat mal zu mir gesagt: Irgendwann nach den Drogen, dem Sex und all dem anderen Irrsinn wird’s besser. Dann geht es nur noch um das Eine, das Wesentliche. Um blöde Tätowierungen.