Sarah Kuttner – Die Kolumne
Meine sehr Verehrten und lieben Herrendamen, vor uns liegt ein pophistorisch immens wichtiger Monat, den es allerorts mit ordentlich Bohei zu feiern gilt. Vielleicht ist es der pophistorisch wichtigste Monat überhaupt, das vermag ich aufgrund starken Alkoholkonsums gerade nicht zu beurteilen (die Antialkoholmafia behauptet ja immerwieder medienwirksam. Schnaps und Co. trübten das Urteilsvermögen, weshalb ich mich hier und jetzt aufs rein Faktische beschränken und nicht wahllos Superlative abfeuern möchte).
Wie auch immer: In diesem Juni jährt sich zum 50. Mal ein Tag. der die Musikhistorie geradezu ärrnelartig umgekrempelt hat. Vor 50 Jahren, genau gesagt am 3. Juni 1956, nahm Elvis Presley, der später unter dem Namen Elvis Presley enorme Berühmtheit erlangen sollte, seinen ersten Song im Sitzen auf! Aus heutiger Sicht mag das kurios erscheinen, Fakt ist aber: Elvis hatte bis dahin tatsächlich die meiste Zeit seines Lebens gestanden. Überhaupt wurde in den 50er Jahren noch weitaus mehr gestanden als heute. Erst in den mittleren 60er Jahren entdeckten jugendliche Beat-Gecken die Freuden des Sitzens, woraus eine Kultur des Herumlümmelns entstand, die bis in die heutige Zeit reicht (vgl. hierzu auch Schuhmacher, Sven).
Der von Elvis im Sitzen aufgenommene Song wurde nie veröffentlicht, die Masterbänder gelten als verschollen. Ich weiß, daß mir zahlreiche Kritiker vorwerfen werden, hier Quatsch zu verbreiten und musikhistorisch interessierte Jugendliche leichtfertig zu vergackeiern. Diese Kritiker (die vermutlich ohnehin nur neidisch auf meinen Alkohol sind) kann ich aber leicht zum Verstummen bringen. Besagtes Datum ist nämlich in der einschlägigen Musikwissenschaftsliteratur verbrieft. In mehreren – vollkommen unabhängigen – Nachschlagewerken kann jener Termin nachgelesen werden (Als Beispiele seien angeführt: Albert Kochs „Musik, Musik, Musik, Musik“ und Josef Winklers melancholische Pop-Betrachtung „Die Zermürbung der Flagellanten).
Natürlich werde auch ich der Würdigung dieses historischen Termins in meiner unter Ausschluß der Öffentlichkeit versendeten Show einigen Platz einräumen. Unter anderem werde ich im Juni in der Sendung mehrmals Elvis‘ Stimme imitieren, und mehrere Zuschauer müssen raten, wen ich da gerade alles NICHT nachgemacht habe. Zu gewinnen gibt es Albert Kochs Buch. Zum Zeitpunkt dieser Kolumnen-Niederschrift ist noch unklar, ob sich der Musikexpress angesichts dieses Elvis-Jubiläums zu einer Sonderbeilage oder einem Special hinreißen lassen wird. Es werde noch diskutiert, sagt ein Praktikant. Sonderbeilagen und Specials sind ja nach meinen bescheidenen Erkenntnissen der absolut heißeste Obermindfuck im modernen Musikjournalismus. Ständig wird irgendwo etwas beigelegt oder es wird gespecialt: „Die 100 wichtigsten Platten“, „Die 100 unwichtigsten Platten“, „Die 25 ödesten Drogenplatten“, „Die schwulsten Platten der 80er“. „Bruce Springsteen – vom armen Hugo zum Boss“, „Die 42 geilsten Lounge- und Chill-Out-Platten, „Die Beatles – wer sie waren, was sie wollten“ etc. Diese ganzen Beilagen und Specials zeigen nicht nur, daß die musikalische Vergangenheit augenscheinlich wichtiger, interessanter und spannender ist als die anstrengend daueranwesende Gegenwart. Sie beweisen auch: Pop ist endgültig im Archiv angekommen, wo immer häufiger meterdicker Staub von zu Recht verdrängten Platten gepustet wird. Man kann den Pop aus Zeitschriften rausnehmen und abheften. Ja, man kann sich diese Beilagen auch zu einer tollen Enzyklopädie binden lassen. Manche essen diese Beilagen sogar, kleiner Scherz, tschuldigung. Und in diesen Zeiten ist es, wie ich finde, eine Schande, nicht zu wissen, daß Elvis seine besten Momente im Sitzen hatte. Und Bruce Springsteen beim Rasenmähen.