Santigold – Griff nach dem Thron


Vier Jahre herrschte Stille, nun spuckt Santigold wieder große Töne. Als selbsternannte Herrscherin will sie Genre- und Geschlechterrollen einreißen. Sind wir bereit dazu?

Heldin der Subkultur? Jedem seine YouTube-Nische? Das sind keine Optionen für Santigold. 2008 schlug ihr Debütalbum Santogold wie eine Hype-Bombe ein. Allerdings gab es kein großes Nachbeben. Einmal auf die Titelseiten, dann zu den Fußnoten. Vier Jahre relative Funkstille bis zum nächsten Album schienen diese Einschätzung zu bestätigen. Aber mit ihrem neuen Album Master Of My Make-Believe zeigt sich: Santigold feilte neben ihren Gastbeiträgen für Jay-Z, Lykke Li oder die Beastie Boys an ihrer Rolle als lebender Schmelztiegel, zwischen Schwarz und Weiß, Dance und Rock, Feminismus und machomäßigen Macht-Gesten. Und sie wartete, bis der Mainstream reif genug für ihre Botschaft wurde. Einst hatte das Mädchen aus Philadelphia, das mit richtigem Namen Santi White heißt, Spaß mit ihrer Crew, diesen Sommer drängt sie vollen Ernstes ins Radio.

Santigold stellte mit Amanda Blank und Spank Rock den Philly-Ableger des Post-Nu-Raves. Ihr Crossover aus Elektro, Rock, 80s plus HipHop-Attitüde verschweißte die offenen Enden des Party-Universums, als die New Yorker LCD Soundsystem und die Franzosen aus der Ed-Banger-Schule mit vergleichbaren Ansätzen auf der Höhe ihres Erfolges standen. Santigolds Hausproduzenten, der hippe Trendverwurster und M.I.A.-Produzent Diplo und der Rihanna- und Shakira-Vertraute John Hill, verkörpern beide Seiten ihrer Vision. Wie verbindet man Radikalität und Massentauglichkeit? Wie schafft man einen Crossover-Stil, der so verbindlich wie verständlich ist?

Kronprinzessin M.I.A. hat sich als notorisch in den Vordergrund drängende Betriebsnudel mit hohlem Krawallaktionismus selbst vom Thron gestoßen. Amanda Blank und Spank Rock haben in letzter Zeit die Füße stillgehalten. Zeit für die 35-jährige Vegetarierin Santigold, die Früchte zu ernten. Die Zukunftsmusik, die mehr Achtungserfolge als echte Erfolge kassiert, sollen heute avantgardistische Rappelkisten wie Lady Leshurr („The female Busta Rhymes“) spielen. Das ist nicht mehr Santigolds Tasse Tee. Sie will den Mainstream emanzipieren wie einst Tina Turner. Geschlechterrollen zu sprengen wie Peaches oder Missy Elliott, gilt dabei nicht ihr künstlerischer Kampf. Santigold will Musikgenres sprengen wie Funkadelic oder, ja eben: Tina Turner.

Auf die Fragen des Feminismus hat sie als pragmatische Machtpolitikerin längst ihre Antwort gefunden: Männer können Männer sein, aber als Frau muss man die Doppelrolle von Frau und Mann übernehmen, wenn man sich durchsetzen will. Und durchsetzen will sich Santigold – jenseits aller Gender-Diskussionen. Im Video zu ihrer aktuellen Single „Disparate Youth“ trägt sie High Heels im Dschungel und stapft darin entschlossen voran. Beim Interview kombiniert sie eine bunt bedruckte Karottenhose mit einer Bomberjacke und tippt mir nach der Feststellung, sie würde normalerweise nicht wie auf dem Album-Cover in sexy Goldbadeanzügen posieren, energisch auf mein Knie: „Aber das soll nicht heißen, ich fände mich nicht sexy, Gott bewahre!“

Wann war die Situation für Musiker aufregender: 2008 oder 2012?

Das Jahr 2008 war definitiv aufregend. Musik, Mode, Kunst, alles vibrierte vor Kreativität. Ich hatte meine kleine Crew aus Spank Rock, Amanda Blank, Switch … Mittlerweile hat sich der Mainstream vorsichtig unseren stilistischen Neuerungen geöffnet, einige Leute wurden erfolgreich. Aber 2012 ist die Stimmung im Keller. Die Musikindustrie riskiert immer weniger, die Mainstream-Landschaft wird immer homogener und eingleisiger. Experimente sind nicht gefragt. Willst du unter Vertrag genommen werden, solltest du am besten bei „American Idol“ aufgetreten sein. Die selben drei Produzenten werfen permanent Hits auf den Markt, die auf den gleichen Akkorden aufbauen. Auf der anderen Seite hat der Mainstream aber auch Elemente verinnerlicht, mit denen ich vor vier Jahren gearbeitet habe. Der Mainstream ist aus der Mitte nach links gerückt. Der Mainstream ist reif für meine Botschaft!

Wo würdest du angesichts der radikalen Pluralität der Musikszenen im Internet-Zeitalter von Mainstream sprechen?

Radio! Drehe das Radio auf und du hörst die selben fünf Songs auf jedem Kanal. Das nenne ich Mainstream. Das Radio verengt den Horizont.

In den Achtzigern hieß es: „Video Killed The Radio Star“. Heute könnte man orakeln: „YouTube kills the music at all.“ Musik wird in einer hyperventilierenden Hype-Maschine auf eine Halbwertszeit reduziert, die ihr keine kulturelle Relevanz mehr ermöglicht. Die Chance, von einer größeren Gruppe über einen längeren Zeitraum Aufmerksamkeit zu bekommen, sinkt rapide.

Logic kills the music. Solche Laptop-Programme für jedermann töten die Musik (sie meint die Software-Serie „Logic“ von Apple – Anm. d. Red.). Andererseits helfen sie auch der Musik. Jeder kann nun Musik machen. Dadurch tauchen neue Talente auf. Nur gehen sie in der Masse der Schrottproduktionen gleich wieder unter. Aber auch der Journalismus tötet die Musik. Du bringst einen großartigen Song raus, aber die Journalisten wollen stattdessen nur wissen: Hast du wirklich den und den gedisst? Sind die Lippen aufgespritzt oder nicht? In der Popkultur steht die Musik nicht mehr im Fokus des Interesses, alles andere ist wichtiger.

2008 warst du die ultimative Hipster-Queen. Empfindest du das heute als Bürde?

Mich interessiert nicht, wo ich mich in der Kunstwelt positioniere. Ich will nur Kunst machen. Es ist wichtig, nicht zu sehr darüber nachzudenken, wie man rezipiert werden möchte. Sonst lähmt es einen. Ich habe noch nie so eigenverantwortlich, so auf mich selbst gestellt gearbeitet wie bei diesem Album. Vorher konnte ich mich auf Partner stützen, vor allem auf John Hill. Ich hüpfte zwar von Produzent zu Produzent, aber John Hill gab mir als Konstante im Hintergrund Halt. Diesmal war ich die einzige Konstante. Ich kam gar nicht dazu, mich zu fragen, was erwarten die Hörer wohl von mir? Ich war komplett mit der Frage ausgefüllt: Wie zum Teufel bekomme ich diese Musik zusammen? Nur ich und die Musik. Deshalb habe ich das Album auch Master Of My Make- Believe genannt. Ich musste mich zur Herrscherin in meiner kreativen Welt aufschwingen. Und damit möchte ich auch eine Beispiel geben, meine Aufforderung lautet: Traut euch, eure eigene Vision umzusetzen, eure Vision von der Welt und von euch selbst. Go for it!

Das ist sehr amerikanisch, sehr allgemein gehalten …

Auf solchen Aussagen beruht mein Ruf! Sie kommen von tief innen.

2008 hast du mit deinem Dance-Rock-Crossover ganz vorne mitgemischt. 2012 sind Dubstep, Witchhouse, Indie-HipHop hip. Lässt du dich davon beeinflussen?

Nicht bewusst. Trendgerechte Musik ist nach einer Saison weg vom Tisch, wie ein Modemagazin. Ich will Musik machen, die wie ein Roman den Test der Zeit übersteht. Klassische Musik. Zeitlos. In „Disparate Youth“ setzt mein Gastproduzent Ricky Blaze Keyboard-Sounds ein, die sehr nach Rave klingen. Aber er platziert sie in einem anderen Umfeld. Die Rave-Sounds treffen auf Punk-Basslines und fast jazziges Schlagzeug. Das meine ich mit zeitlos.

Hast du andere Beispiele für zeitlose Musik, wie du sie siehst?

Ich höre The Smiths, seit ich 15 bin … Ich kann mir auch vorstellen, dass „Someone Like You“ von Adele zu einem Klassiker reift, es ist so simpel und ihre Stimme ist so rau und aufrichtig. Oder ich denke da auch an jemanden wie Billy Ocean … aber der rangiert wohl eher unter Nostalgie als unter Klassiker.

Um aber noch einmal auf aktuelle Entwicklungen in der Popmusik zu kommen: Man munkelt, du planst eine Kollaboration mit Earl Sweatshirt vom Alternative-HipHop-Kollektiv Odd Future?

Er wird mir Musik zuschicken. Aber bislang ist noch gar nichts passiert. Die letzten zwei Jahre fühlte ich mich wie eingesperrt in einer Höhle. Jetzt stecke ich meinen Kopf raus und höre mir wieder neue Musik an: ASAP Rocky, Beach House, Crystal Castles …

Hast du den Verdacht, dass Elektro-Klamauker wie Childish Gambino oder LMFAO den Stil durch den Kakao ziehen, den du mit aufgebaut hast, den du ernst nimmst?

Ich habe den Eindruck, dass Musik immer erst verwässert werden muss, bevor sie erfolgreich wird. Der „New Dubstep“ in Amerika zum Beispiel ist nur ein alberner Abklatsch von den UK-Ursprüngen. Ich erinnere mich, als in Brixton HiFi neu definiert wurde und alle mit diesen riesigen Kopfhörern rumliefen. Aber gut, Kultur bewegt sich in Mäuseschritten vorwärts. Betrachten wir es optimistisch.

Dein Langzeitpartner Diplo arbeitet mit dem US-Dubstep-Don Skrillex zusammen.

Diplo arbeitet mit jedem zusammen, dessen Gesicht in den Medien auftaucht.

Die Musikindustrie ist im Wandel, die politische Welt aber noch viel radikaler. Occupy, Arabischer Frühling – überdenkst du deine Rolle als Künstlerin im Auge des sozialen Orkans?

Das Album habe ich größtenteils 2010 geschrieben, vor den großen Erschütterungen. Aber natürlich lebe auch ich auf dieser Erde. Und ich spüre, wie die Erde sich wehrt, weil wir sie misshandeln. Erdbeben in New York City? Das hat es mein Lebtag nicht gegeben. Sommer im Winter. Atomkatastrophe. Ölkatastrophe. Die Wahrheit wird sich Bahn brechen! Und die Menschen reagieren genauso wie die Erde. Die Frustration bricht sich Bahn. Mein Song „The Riot’s Gone“ behandelt allerdings nicht politische Aufstände, sondern einen Aufstand in meinem Inneren. Aber so was passiert, wenn man sich als Mensch unter Menschen eingetaktet hat. Das Persönliche und das Politische korrespondieren intuitiv.

Aber du fantasierst dich nicht an die Spitze der arabischen post-revolutionären Gesellschaft wie M.I.A. in ihrem „Bad Girls“-Video?

Nein. Ich bin nicht groß an Politik interessiert. Ich interessiere mich für Menschen. Alles andere kommt mir vor wie eine Art Sport: es geht um konkurrierende Teams, darum, wer gewinnt, um Eitelkeiten. Dabei sollte es doch nur um das eine gehen: Wie behandle ich die Menschen gerecht? Ich mache nicht auf cool und rebellisch. Eine Menge meiner Energie setze ich zwar auf rebellische Weise frei, aber nur, weil Dinge ausgesprochen werden müssen, die sonst ungesagt blieben.

Das Cover deines neuen Albums legt nahe, dass Emanzipation, die Selbstermächtigung der Frauen, ein wichtiges Thema für dich bleibt?

Weil ich mich zur Herrscherin auf dem Thron und im Sattel aufschwinge? Ich wollte vor allem mit einem bildenden Künstler zusammenarbeiten. Es gibt kaum noch Plattencover von Künstlern. Kehinde Wiley hat noch nie eine Frau gemalt. Ich fürchtete, wie ein 15-jähriger Junge auszusehen, aber er hat es gemeistert.

Mich hat es eher an die Tradition von Big Daddy Kanes Album Long Live The Kane erinnert. Schwarzamerikanische HipHopper inszenieren sich als totalitäre Herrscher aus weißen Feudalzeiten.

Ich liebe Big Daddy Kane. Früher habe ich mit Freundinnen zu einem seiner Stücke eine Tanzperformance einstudiert. Aber es gibt fundamentale Unterschiede zwischen den beiden Covern. Big Daddy Kane lässt sich von den Begleiterinnen in Harems-Manier verwöhnen. Die Frauen sind die Kätzchen des Herrschers. Auf meinem Cover bewachen die Frauen rechts und links vom Thron den Herrscher, sie sind das Gegenteil von Spielkätzchen, sie sind Bodyguard-Tigerinnen, mit denen man nicht spaßen sollte. Alle von mir auf dem Cover eingenommenen Rollen demonstrieren Stärke, Macht. Mit den goldenen Badeanzügen von Alexander Wang zeige ich, dass man sexy und gleichzeitig gerüstet sein kann. Ich richte mich mit dem Cover allerdings in keiner Weise gegen Big Daddy Kane. Big Daddy Kane, 2 Life Crew … diese Macho-Rapper sind vielleicht beschränkte Männer, aber großartige Künstler. Es ist ihr eigenes Problem, wenn sie an den Unfug glauben, den sie rappen.

Gibt es weibliche Künstler, die dir wichtige Impulse gegeben haben?

Nun, Nina Simone, Debbie Harry, der Harmoniegesang der Three Degrees … Aber Robert Smith von den frühen The Cure und Morrissey von The Smiths, die haben mich in noch ganz anderem Maß beeinflusst! Ich denke nicht in Männer/Frauen-Kategorien. Ich bin stolz darauf, dass ich mit meinem egalitären Crossover aus schwarzen und weißen Musiktraditionen mitgeholfen habe, unsinnige Grenzen aufzubrechen. Fundamentalistisches Rare-Groove-Spezialwissen ist heute nicht mehr cool. Alles zu kennen – und nicht nur oberflächlich -, damit punktet man. The Weeknd wird dafür gefeiert, mit einem Siouxsie-Sioux-Sample zu arbeiten. Das Schwarz-Weiß-Ding, das Rock-Dance-Ding zu entdogmatisieren, das ist die Emanzipation, die mir wichtig ist. In meinem Make-Believe ist das längst Realität.

Albumkritik S. 89

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Santigold

Ihren ersten Erfahrungen im Musikbiz hat die 1976 in Philadelphia geborene Santi White in der A&R- Abteilung des Labels Epic gesammelt. Um die Sängerin Res zu produzieren und für sie zu komponieren, wechselt sie 2001 ins Musiker-Lager. Zudem singt sie in der Punkrockband Stiffed. 2008 folgt ihr Debütalbum unter dem Spitznamen Santogold, den sie später aus namensrechtlichen Gründen ändern muss. Sie kooperiert mit vielen Kollegen, auf ihrem neuen Album u.a. mit Karen O und Q-Tip.