Santana
Überraschung des abgelaufenen Rock-Jahres 1978 sorgte jetzt Altmeister Devadip Carlos Santana. Er, der jahrelang bis zum Überdruß seine schon 1969 erfundene Mixtur aus Rock und lateinamerikanischen Rhythmen wiederaufkochte, überrollte Deutschlands Konzerthallen plötzlich mit einer frischen, erregenden Synthese von Mainstream-Rock, Soul und Jazz, Bn dem das gewohnte Perkussi ons-Ge blu bber seine zuvor dominierende Rolle verloren hatte. Wer Santana im Laufe des November gesehen hat oder Anfang Dezember noch sieht (1.12. Nürnberg, 2.12. München), wird diese Auftritte so schnell nicht wieder vergessen, meint Hermann Haring, der Carlos‘ zweiten Frühling erlebte.
Neugier trieb mich Mitte November ins Hamburger Congress Center, zum Santana-Spätkonzert um 22.30 Uhr. Geweckt hatte sie die elfte und jüngste Santana-LP „Inner Secrets“, die einen radikalen Soundwechsel der legendären Frisco-Band dokumentiert (siehe Longplayers Seite 48). Carlos on the rocks – war das nur das Make up eines gewieften Produzenten, oder steckte dahinter tatsächlich eine Frischzellenkur? Die Antwort läßt sich auf ein Comic-Kürzel komprimieren, das auch den Titel für einen der neuen Santana-Songs abgibt: „Wham!“
Santana hielt die ausverkaufte Halle zwei Stunden lang in Atem. Die Band verzichtete hier auf die in anderen Konzerten ablaufende halbstündige jazznahe Einstimmung durch das „Devadip-Orchestra“, eine von einigen Santana-Musikern gebildete Untergruppe. Stattdessen war von der ersten Minute an kraftvoller Rock Trumpf, der sich im Verlauf des Auftritts mehr und mehr für andere Spielarten populärer Musik öffnete, ohne an Biß zu verlieren. Die Songs der neuen LP, in denen viel Soul und Funk steckt, beherrschen die Szenerie. Die Wirbel der drei Perkussionisten Paul Rekow, Armando Peraza und Pete Escovedo luden den Sound beständig mit Energie auf, waren aber nicht Herzstücke der Musik. Da stand schon eher Sänger Greg Walker im Mittelpunkt, der seit drei Jahren zu Santana gehört, aber erst jetzt offenbar den Freiraum erhält, um seine Stimme voll zu entfalten. Und dieser Mann hat eine Stimme! Voller Seele, warm und wohltönend, von großem Umfang und noch größerer Kraft. Knapp zwei Meter groß, bewegt er sich geschmeidig wie eine Raubkatze über die Bühne. Im Titel „Move On“ lieferte Greg Walker sein Glanzstück ab, als Carlos Santana auf einmal reinen Blues zu spielen begann und er dazu mit der Stimme improvisierte.
Kollektive Improvisation war überhaupt eines der Schlüsselwörter dieses Santana-Auftritts. Die neunköpfige Besetzung rockte mit einer Spielfreude los, als hätte sie gerade ihre erste Goldene kassiert. Ich habe selten ein Konzert erlebt, bei dem die Musiker selbst soviel Spaß hatten und sich in solchem Maße immer wieder gegenseitig stimulierten. Gegen ein Uhr in der Nacht gab es dafür Beifall, der nicht enden wollte: fünf Zugaben mußte Santana geben; bei der letzten – „Evil Ways“ kam ganz überraschend Amerikas vielversprechendes Nachwuchs-Talent Eddie Money auf die Bühne und sang mit.
Es war eine wahrhaft heiße Nacht, die allerdings keineswegs zufällig zustande kam. Alle Musiker von Santana sind derzeit von Euphorie befallen. Sänger Greg Walker vor dem Auftritt: „Mensch, ich würde am liebsten sofort die nächste LP aufnehmen“. Und der neue Gitarrist Chris Solberg ergänzt: „Es ist phantastisch, wie gut diese augenblickliche Besetzung zusammenpaßt.“ Welche Rolle spielt Carlos Santana in dieser Band, in der es starke Persönlichkeiten gibt, die an seinem Heldensockel kratzen? „Carlos ist großartig“, meint Chris. „Von ihm kommt die Inspiration. Er hält alles zusammen.“ Santanas neuer Kurs entstand vor einem Jahr im Verlauf einer Experimentierphase, die mit dem Ausstieg der Bandveteranen Tom Coster und Jose „Chepito“ Areas begann. Seitdem zeigt sich Santana erheblich verjüngt: Lediglich Armando Peraza mischte schon 1974 auf der LP „Borboletta“ mit; Greg Walker kam 1976, der Rest der Musiker noch später. Den Dreh zum Rock hat vor allem der brillante Rhythmusgitarrist Chris Solberg beschleunigt, der früher mal in der Begleitband von Eddie Money gespielt hat. Verantwortlich für die Soul-Elemente sind in erster Linie wohl die Produzenten von „Inner Secrets“, Dennis Lambert und Brian Potter, die Santana obendrein auch neue Songs lieferten und zu einschneidenden Änderungen bei den Plattenaufnahmen überredeten: Anders als früher hielt sich die Gruppe diesmal an das übliche Verfahren, erst die Rhythmusinstrumente aufzunehmen, dann die Melodieinstrumente und dann den Gesang. In gewohnter Santana-Manier, nämlich auf einen Schlag, entstand lediglich das Stück „Wham!“.
Lambert und Potter, deren letzter großer Clou die Gruppe Player war, hievten Santana mit „Inner Secrets“ in den USA wieder ganz nach oben. Vorbei scheinen die Zeiten, in denen die Band in Deutschland weit mehr Platten verkaufte als in ihrer amerikanischen Heimat. Freuen wird sich über diesen Erfolg auch ein Mann, der gleichfalls manche Anregung für den jüngsten Kurswechsel gab: US-Konzertimpressario Bill Graham. Vor Veröffentlichung des Doppelalbums „Moonflower“ hatte Graham das Santana-Management übernommen. Und prompt landete die Gruppe daraufhin mit der Single „She’s Not There“ (veröffentlicht 1977) wieder einen Hit in den USA. „She’s Not There“ war auch in anderer Hinsicht ein Wegbereiter: „Dieser für Santana ungewohnte Song“, erinnert Greg Walker, „hätte doch eigentlich jedem zeigen müssen, das bei uns was im Busch war!“