Sadista Sisters
Als vor knapp drei Jahren ein Alice Cooper skurril gewandet über die Bühnen fegte, seine „Billion Dollar Babies“ jagte und seinen „Muscle Of Love“ spielen ließ, werden sich viele gefragt haben, wohin das noch alles führen würde. David Bowie tänzelte als Ziggy Stardust-Zwitter nicht weniger aufwendig herum, aber ihm nahm das keiner übel — er war schließlich mal Pantomime gewesen und hatte ein Faible für die Schauspielerei.
Tja, die pessimistischen Giftzungen, die damit haderten, daß das Ganze ja nur noch wenig mit Musik zu tun hätte, sollten recht behalten. Zumindest was die spektakulären Show-Enlagen anging. Gegenüber der Tubes-Monstermache nimmt sich Alice nämlich wie ein abgetakelter Bühnenarbeiter aus, der eine Gartenparty etwas auf Schwung bringen will. Aber womit sicher keiner gerechnet hatte, ist die Tatsache, daß die heutigen Spektakel-Epigonen trotz extremster Show-Einfälle und flimmerndsten Großaufwänden die musikalische Seite ihres Acts nicht vernachlässigen.
BEIDE EXTREME
Anfangs schien es gar nicht möglich, beide Extreme unter einen Hut zu kriegen. Entweder man investierte in den „Horror“ auf der Bühne, oder man spielte satten, vielseitigen Rock. (Wer ist schon begabt genug, ausreichende Ideen und Impulse für beide Medien mitzubringen?) Aber gerade DIE Band, die den Schow-Pflock am tiefsten trieb und ihre ironischen Versionen am cleversten inszenierte, sollte uns eines besseren belehren und die neu errungenen Möglichkeiten am trefflichsten vor Augen führen: Denn die TUBES aus San Franzisco spielen trotz allem erstklassige Rockmusik! Sie stellen sowohl die Musik jeder Show-Truppe in den Schatten, wie auch jede Show aller sonstigen Rockbands. Sie sind mit Abstand das sehenswerteste, was sich auf dem Gebiet des „Theater-Rock“ bis heute ereignet hat!
1. GRUPPE TUBES LIVE!
Ihre Bühnenaktivitäten zu beschreiben, würde eine Sonderausgabe von ME füllen: Fee Waldo, allgewaltiger Tubes-Mittelpunkt und Sänger, taucht während jeder Nummer in neuer Identität auf – als Mutation aus dem Weltraum, als kubanischer Politiker, als völlig übertrieben hochstilisiertes Rockidol Quay, als Baron der Ketten und Peitschen oder als Tom Jones-Persiflage in „It’s Not Unusual“. Jeder seiner Rollen wird durch die musikalische Untermalung, die ständig wechselnden Kostüme und die visuellen Tricks, die wie ein Trommelfeuer auf die Zuschauer hereinhageln, neues Leben eingehaucht. Außerdem ist Fee als Schauspieler ebenso talentiert wie als Sänger. Und obwohl er unbestreitbar den Mittelpunkt einer jeden Aufführung bildet.
ist er doch nur ein kleines Rädchen in der Tubes-Showmaschine. Ununterbrochen wirbeln, bis auf ein paar geschickt plazierte, winzige Stoffdreiecke nackte Tänzerinnen um ihn herum. Hinter ihm wird ein im gleichen Moment aufgenommener Video-Streifen an die Wand geworfen, und fortwährend blinkt, flimmert und verändert sich die Szenerie auf der Bühne. Die weit aufgerissenen, erstaunten Augen des Publikums haben Mühe, alles zu registrieren, was sich ihnen da bietet.
ILLUSTRIERTE SONGS
Den Tubes dienen die bis ins kleinste konzipierten Schauteile allerdings in erster Linie zur Illustration ihrer ebenso fein säuberlich konzipierten Stücke. Ihre Bestrebungen gehen aber dahin, zu erreichen, daß beide Teile auch auf sich selbst gestellt vor kritischen Augen und Ohren bestehen können. Auf ihrem ersten Album „The Tubes“ gelang es ihnen bereits ganz gut. denn man ist auch ohne die visuellen Erscheinungen, allein von der Musik ganz hin und her gerissen. Sie erinnert ein wenig an Frank Zappas Mothers gegen Ende der 60er Jahre, etwas an verblichene Westcoastklänge und an die frühen London Beat-Tage der Kinks und der Who. Die Texte sind wider Erwarten leicht verständlich, zynisch und meist sehr bissig. Ihr Geständnissong „White Punks On Dope“ zählt schon heute zu den Underground-Klassikern der siebziger Jahre.
DIE TUBES-MUSIKER Und überhaupt, es ist kein Wurm zu finden! Jede Tubes-Nummer ist vom typischen dichten, von Synthesizer und Gitarre beherrschten,Sound gekennzeichnet, mit einprägsamen Themen und vielseitigen Arrangements. Jedes Stück ein kleiner Film für sich. Eigentlicher musikalischer Direktor ist Bill Spooner, der Gitarrist, neben Fee Waldo der zentrale Punkt auf der Bühne. Dann kommt Roger Steen, ein weiterer Gitarrist, und am Bass steht Rick Anderson. Die beiden Keyboardspezialisten sind Michael Cotton (Synthesizer) und Vince Welnick (alle übrigen Tasten) und am Schlagzeug sitzt Prairie Prince, der ganz nebenbei noch die Tubes-T-Shirts, die Bühnenbilder und alle sonstigen kreativen Seiten der Show aus seinem Hut zaubert. Re Styles ist die einzige fest angestellte Tänzerin und Schaudame, der Rest der Mädchen wird hin und wieder ausgewechselt.
2. GRUPPE DIE SADISTISCHEN SCHWESTERN
Ebenso wie die Tubes früher zum Teil Designer, Werbegrafiker oder Schauspieler waren, arbeiten auch die Sadista Sisters mehr oder weniger aus einer Theater-Tradition heraus. Diese Mischung, das bewies schon Freund Bowie, dürfte die am erfolgversprechendste unter allen Stil-Richtungen sein. Sie bringt sowohl in die Rockmusik als auch ins „tote“ Theater neue und aufregende Impulse, die beide dringend nötig haben. Die Sadistas zählen daneben zu den ganz seltenen Beispielen von „All-Girl-Bands“, die neben der sexuell aufreizenden Schau noch den Mut aufbringen, die Gehirnzellen des Publikums zu aktivieren. Genau wie den Tubes geht es ihnen um Denkanstöße und den aufklärerischen Charakter ihrer Shows, wobei sie allerdings keinen großen Wert auf den erhobenen Zeigefinger legen oder auf die seit Dylan so geschätzte Message“.
VERGEWALTIGUNG UND EXIBITIONISMUS
Aufsehen erregten die fünl absonderlichen Damen mit Pressefotos, die unter anderem eine von ihnen im achten Monat schwanger zeigten (in Strumpfhosen, wie pervers!). Sie sind ohnehin nicht zimperlich: Eine gespielte Vergewaltigung, ein weiblicher Exibitionist, ein Hausmütterchen, das seine Frustrationen an dem Sonntagshuhn austobt oder der Teenager, der seinen Brüsten mittels einer Luftpumpe Nachdruck verleiht. Und all das „live“auf der Bühne! Daß die ehemals Schwangere eine Kusine des englischen Königszeln entlocken können. Dabei gehören sie nicht einmal, wie mancher still gehofft hat, zur „Womens Lib Front“. Selbst diese Organisation ist den Vorstellungen der Fünf noch zu limitiert und engmaschig.
KEINE MUSIKER
Auch die Sadista Sisters brauchen trotz grausig gut gemachter Show die Musik nicht zu verstekken. Ihre erste LP ist „nicht schlecht“. Teresa D’Abreu, Judith Anderson, Linda Marlowe, Jacky Tayler und Hazel Clyne sind allerdings keine Musiker im herkömmlichen Sinn. Außer Jacky, die Gitarre spielt, beherrscht keine von ihnen ein Instrument. Sie schauspielern und singen nur, aber die Musik und die Texte stammen aus der eigenen Feder. Christie Dickason, die zwar „live“ nicht mit agiert, ist hauptverantwortlich, was die theatralischen Effekte angeht, und abgerundet wird die Sache mit der dazu gehörenden Band – die aber nur aus Brothers besteht.
3. GRUPPE KÜSSCHEN!
Kiss, eine weitere Gruppe im derzeit so populären Panoptikum des Rock-Spektakels , ist lange nicht so anspruchsvoll und hintergründig wie ihre beiden Kollegen. Bei ihnen geht es schlicht und ergreifend darum, den Leuten mal so richtig einzuheizen! Sie kennen keine theatralischen Probleme, keine illustrierten Songs und keine assoziationsreichen, kritischen Texte. Simpler, dafür aber lauter Heavyrock mit den üblichen Wortergüssen, genügt ihnen zu ihren Ambitionen. Und dafür konnten sie kürzlich gar ihr erstes Platin-Album in Empfang nehmen, denn Kiss zählt inzwischen zu Amerikas Supersellern, die im Handumdrehen die größten Fußballstadien ausverkaufen. Das hätte sich vor drei Jahren, als die ersten diesbezüglichen Meldungen nach Europa durchsickerten, sicher niemand träumen lassen.
BLUT UND FEUER
Sie benutzen wie alle anderen auch Make up-Masken (wie z.B. Sternchen, Kätzchen usw.), freilich ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden oder sie mal auszuwechseln. Aber sie spucken mit Ketchup… pardon, mit Blut natürlich, lassen ihre Gitarren Raketen abschießen, Maschinengewehrfeuer bringt die arg strapazierten Ohren zum Glühen, und der Höhepunkt ist erreicht, wenn einer von ihnen sich Benzin in den Rachen kippt, ein Streichholz daran hält und das brennende Zeug in einem hohen Feuerschwall in die Luft prustet. Ace Frehley, Paul Stanley, Pete Crise und der höllisch gemein aussehende Gene Simmons sind eine reine Rockband, eine der echten, brutalen, die gar nicht mehr sein wollen. Dank der aggressiven Leder-Nazi-Brutal-MG-Feuer-und Blutshow verkaufen sie aber zweifellos einige 10 000 Stück ihrer durchschnittlichen Platten mehr, die den Tubes letzten Endes irgendwo fehlen dürften.