Rolling Stones, Chicago, Soldier Field
DAS WAHRE GESICHT DER ROCK’N ROLL, TEUFLISCHE Szenen babylonischen Ausmaßes – die gibt es zunächst nicht auf der Bühne, sondern vorerst nur auf dem Herrenklo. Eine Kakophonie von Uringeplätscher geht dort einher mit beißendem Gestank – so muß es in der Hölle riechen! Kein Wunder, bei dieser Menschenmenge: 54.000 haben sich zur Premiere der 13. US-Tour der Rolling Stones im Soldier Field Stadium in Chicago versammelt. Rock’n‘ Roll ist für sie gleichbedeutend mit dem ewig jugendlich herumhüpfenden Jagger, dem knittergesichtigen Richards, dem kettenrauchenden Wood und dem stoisch-coolen Charlie Watts. Um diese vier zu sehen, wurden auf dem Schwarzmarkt bis zu 400 Dollar pro Ticket gezahlt. Die Gegenleistung: ein Abend in der „Windy City“ bei ungemütlichen Temperaturen mit der ältesten, größten und besten Rockband der Welt. Und vor deren Antlitz verschmelzen pubertierende Bettnässer, coole Bad Boys und fromme Betschwestern zur glücklichen Einheit. Bloß: Mit Rock’n‘ Roll hat das alles nur bedingt zu tun. Aber wer auf dem Soldier Field den Geist des Rock’n’Roll sucht, der lebt ohnehin auf einem anderen Planeten. Hier geht’s um Entertainment. Und – das sei hier nachdrücklich vermerkt-die Qualität dieser Show soll nicht gemessen werden am physischen Zustand der verwitterten Hauptdarsteller. Die Fragen lauten: Kann diese „Babylon“-Tour U2’s „Popmart“-Spektakel toppen? Zeigen Jagger & Co. den Willen, noch einmal etwas Besonderes auf die Beine zu stellen? Die Antwort ist noch am ehesten im Fußball zu finden – das Programm der Show gleicht einem Elfmeter der Siegermannschaft beim Stand von 13:0. Zu 80 Prozent setzen die Stones auf die ganz sicheren Nummern, angefangen bei „Satisfaction“, „Let’s Spend The Night Together“ über „Ruby Tuesday“ und „The Last Time“ bis hin zu „Start Me Up“ oder „Jumpin’Jack Flash“. Vom neuen Album, „Bridges To Babylon“, gibt’s nur zwei Songs: „Anybody Seen My Baby“ und „Out Of Control“ – beide vom Publikum im sicheren Wissen, danach wieder einen Klassiker zu hören, eher erduldet als honoriert. Das pompöse Bühnenbild, die Kostüme, all das hat man schon aufregender gesehen. Jagger mal mit Bowler und Samtjackett, mal in Trainingshose und Mod-Hemd, Richards als grauer Panther im Leopardenmantel, Ronnie Wood {wie immer) als agiler Hampelmann, im Hintergrund aufgeblasene goldene Nymphen und ein golden ornamentverziertes Video-Bullauge. Das Ganze sieht aus wie die Restbestände aus Disneys Bühnenfundus zu „20.000 Meilen unter dem Meer“. Wieviele Millionen Kabel-Kilometer verlegt wurden, wieviel hundertausend Watt die P.A. leistet, wieviele Trucks das Gerumpel durch die Gegend karren, und wieviel Gallonen Evian-Wasser pro Show zur Verfüg
gung stehen – es ist egal.Teuer ist das Schauspiel auf jeden Fall. Dafür sorgt schon allein seine Größe. Die Stones auf der Bühne, das ist nun mal der Bugatti im Rock’n’Roll-Fuhrpark. In Chicago wird diese Tatsache ein weiteres Mal fett unterstrichen. Denn es gibt sie immer noch, die großen Momente, die wohl nur die Stones herbeizaubern können: Jagger & Richards Arm in Arm bei „igth Nervous Breakdown“, der von Bassist Darryl Jones angetriebene Funk-Jam in „Miss You“ (sinnigerweise auf dem Videobildschirm begleitet von Bildern verblichener Helden wie Jerry Garcia, John Lennon und Muddy Waters), die Saxophon-Soli von Bobby Keys und schließlich Richards'“All About You“- Höhepunkte,die Emotionen freisetzen. Schön, die grandiosen alten Hits aus erster Hand von den Meistern selbst zu hören. Indes: Wirklich magische Momente sind in der zweieinhalbstündigen Show vergleichsweise selten. Selbst als die Band für einige Schrammelnummern (u.a.“Little Queenie“und“Let It Bleed“) die große Bühne verläßt und inmitten der Zuschauer auf einem kleinen, mit Verstärkern und zweitem Schlagzeug ausgerüsteten Plateau zu Werke geht, will der Funke nicht looprozentig überspringen ein Stadion ist nun mal keine Rhythm’n’Blues-Kaschemme. Wer nicht zufällig einen Platz in der Nähe der kleinen Bühne beim Publikum ergattert hat, verfolgt das Geschehen am besten auf dem Videoschirm. Was bleibt, ist die Erkenntnis, daß die Stones wieder rollen – wenngleich noch nicht ganz rund. Die Euphorie der Menge bleibt seltsam verhalten. Aber das kann ja noch werden. Jagger selbst sagte in Chicago: „Die Show wird sich im Laufe der Tournee noch entwickeln.“ Und sollte Mick seine Ankündigung wahrmachen, regelmäßig in größeren Städten Club-Gigs zu spielen, kommt auch der echte Rock’n’Roll noch rüber.