Rolling Stones
125 MINUTEN ROLLING STONES IN DER WALDBÜHNE – STONES-HERZ, WAS WILLST DU mehr? Gerade mal 19.000 Fans passen in die gemütliche Arena, eine exklusive Veranstaltung mithin, auch was die Preisgestaltung betrifft; 198,50 DM kostet der Spaß.
Die Stones und die Waldbühne – eine lange Geschichte: Am 15. September 1965 hinterläßt die Band hier verbrannte Erde. Und das im Wortsinne. Die postkonzertante Randale (38 Verletzte, davon sechs Polizisten; 70 Festnahmen und jede Menge Kleinholz) beschert der Waldbühne eine langjährige, städtisch verordnete Rockabstinenz. In jener Woche steigt „Satisfaction“ auf Platz 7 der deutschen Singles-Charts ein.
17 Jahre später: Es darf wieder gerockt werden, und am 8. Juni schauen die Stones vorbei. Diesmal ohne Folgen. Denn Rock ist längst erwachsenes Entertainment geworden – in den Top Ten tummeln sich McCartney, Falco, Nicole und Trio. Zudem beginnt im Zeichen der Zunge 1982 auch hierzulande das Zeitalter der Stadionkonzerte – die Hallen sind der größten Band der Welt zu klein geworden. Und 1998? Jagger, Richards, Wood und Watts sind noch immer unterwegs, und sie sind die unumstrittenen Branchendinos. Nun also die Rückkehr ins beschauliche Rund der Waldbühne, ein Ambiente vergleichsweise intim wie ein Bluesclub. Und der Blick in die Charts bringt noch immer zuverlässigen Aufschluß über den Zeitgeist: Neben Rocksurrogat Westernhagen finden wir dort die Schlümpfe, je drei Soundtracks und Tenöre sowie die Herren Bohlen und Anders. Für den Rock ’n‘ Roll indes sind inzwischen längst Leute wie Bill Clinton zuständig.
Zurück in den Berliner Grunewald: Es soll ein besonderer Abend werden. Edelsteine zum Anfassen. Keine kleinen Strichmännchen in hundert Meter Entfernung, statt dessen Tuchfühlung mit den Leibhaftigen. Kein Platz für Pomp und Pappmache, sondern Konzentration aufs Wesentliche – und das ist die Musik. Wirklich? Klar, da oben stehen die wohl besten Stones aller Zeiten. Wer das überhört, muß auf den Ohren sitzen. Und das Programm – bietet abseits obligatorischer Hits Bonbons wie ein bemerkenswert kompaktes „Memory Motel“, ein überraschend punkiges „Respectable“, ein orgiastisches „Out Of Control“ und das hymnische „Gimme Shelter“.
Das Dilemma der Stones jedoch wird bei „Thief In The Night“ deutlich: Nach dem letzten Akkord herrscht Grabesstille im Auditorium, obwohl die Nummer trotz haarsträubendem Keith-Fehlgriff durchaus ansprechend gerät. Aber wen interessiert’s? Hier geht es nicht ums Zuhören. Hier wird ein Lebensgefühl zelebriert, eine Legende abgefeiert. Schließlich stehen die Originale auf der Bühne, mit dem schmucklosen Begriff „einmalig“ so kurz wie treffend kategorisiert.
Bezeichnenderweise wird Dylans „Like A Rolling Stone“ zur Wasserscheide der Show – mit dem Song-Intro endet das vom Publikum lediglich mit gebremstem Temperament goutierte Konzert, und das Volksfest beginnt. Fortan verwandelt jedes Anfangsriff das spätsommerliche Rund in ein schweißtriefendes Tollhaus. Daß die Band dabei trotz offensichtlicher Spielfreude seltsam distanziert wirkt, registrieren die wenigsten. Es scheint, als feiere jeder seine eigene Party – die da oben und die da unten. Daß die da oben den fäustereckenden Fans willig den Rhythmus soufflieren,entspricht natürlich der Jaggerschen Berufsauffassung. Animation ist schließlich sein Geschäft. Dabei wirkt seine zickig-zackige Performance ohne gewaltige Babylon-Kulissen und Zyklopen-Videoauge nicht nur überdimensional, sondern auch ein wenig albern. Nur bei den sporadischen Harp-Einsätzen wird für Augenblicke die Hingabe des enthusiastischen Bluesjüngers der frühen 60er Jahre sichtbar.
Und Kollege Richards, seit Dekaden Sinnbild des authentischen Rock’n’Rollers? Der Mann mit der martialischen Motorik trägt die Insignien seines Ruhms: bunte Schals, brustfreie Westen, baumelnde Bändchen und Totenkopfring – aus der Nähe betrachtet scheint die Piraten- Pose jedoch ein wenig dick aufgetragen. Wenn Keith mit Kumpel Ronnie und Rastamann Bernard Fowler bei „Miss You“ qualmend und feixend auf der Kante von Charlies Drumpodest hockt und Sängerin Lisa Fisher mit bebendem Dekollete vorbeistolziert, kommen dem Betrachter unweigerlich Raucherecke und Schulhof in den Sinn-auf Stadionformat getrimmte Gangrituale, die im familiären Waldbühnen-Kontext, nun ja, ein wenig deplaziert wirken. Ronnie Wood indes outet sich als konzentrierter Gitarrist, der klaglos die musikalische Kärrnerarbeit verrichtet und nur gelegentlich den zähnebleckenden Kasper gibt. Was Wunder, daß Mr. Watts all das immer etwas peinlich zu finden scheint.
„Don’t you think it’s sometimes wise not to grow up“. So sangen die Stones einst in „100 Years Ago“. 25 Jahre später können sie gar nicht mehr anders: Ein ganzer Planet bezahlt sie fürstlich dafür, gleichsam wie die Hamster im Laufrad den eigenen Mythos zu reproduzieren. Wie lautet doch der Titel des letzten Songs ihres bislang letzten Studioalbums, gesungen von Keith – „How Can I Stop“.