Rock’n’Coke Festival, Istanbul
Ohne Plattenvertrag, nur mit ein paar Liedern im Gepäck, wagt sich die Nachwuclisband aVid* aus Wesel auf die Main Stage des Rock'n'Coke-Festivals in Istanbul. Der Auftritt ist ein Erfolg, die Zukunft aber ungewiss.
„Noch zehn Minuten?“ Sänger Chris rümpft die Nase. Die Ana Sahne (Türkisch für Main Stage) des Rock’n’Coke-Festivals ist frei, alle technischen Details sind geklärt, aVid* wollen endlich raus und spielen. „Vielleicht haben die einen Zeitplan, an den sie sich halten müssen“, spekuliert Steph, der Gitarrist, mit einem Anflug von Panik im Blick. Die Menschen vor der Bühne scharren ungeduldig mit den Füßen. Höchste Zeit, dass es losgeht.
Wie entspannt war doch der Tag zuvor gewesen: die Anreise mit Turkish Airlines, der Empfang am Flughafen, das üppige Menü im Fischrestaurant Can Baba in einer Bucht am Rande der 12-Millionen-Metropole. „Seif ich in dieser Band spiele, stehe ich fast jeden Morgen mit einem Grinsen auf, erzählt Schlagzeuger Scholle bei einem Glas Efes, das von den aufmerksamen Kellnern ständig nachgeschenkt wird. Doch die Monate vor dem Istanbul-Gig waren hart. „Wir haben Live-Pause gemacht und ein neues Set erarbeitet mit drei neuen Songs. Das war wichtig, aber ich bin trotzdem fast depressiv geworden.“ Die Betonung liegt auf „fast“. Denn die Medizin ist gut. Welche Band, deren Debüt-Album noch in den Sternen steht, wird schon ans Ende des Kontinents geschickt, um ein 15000-Besucher-Festival zu bespielen?
Viele Bands mögen keine Wettbewerbe. Wer die Qualität von Musik, so argumentieren sie, in Listen sortieren wolle, der habe keine Ahnung von ihrem Wesen. Sie haben Recht. Allerdings: Seit Schnaps-, Brause- und Elektronikhersteller den Rockstartraum als Imagevehikel vereinnahmt und den Bandwettstreit aus den Jugendzentren auf die großen Bühnen verpflanzt haben, wird es für den Nachwuchs immer schwieriger, die werbewirksamen Angebote der Sponsoren zu ignorieren. Vielleicht wird ja auch umgekehrt ein Schuh draus: Wie gut, dass Sponsoren den A&Rs der Plattenfirmen bei der Talentsuche beispringen. Was für ein Fehler, Wettbewerbe zu meiden. Denn wer sich bei den großen Competitions durchsetzt, steht zumindest – wie nun eben die bis zuletzt noch gänzlich unbekannte Schüler- und Studenten-Combo aVid* – mit einem Bein im Business.
aVid* machen also ziemlich viel richtig. Kaum ein Förderprogramm, an dem sie nicht teilgenommen haben, etwa beim John Lennon Talent Award, beim Quiksessions Battle of Bands und bei der Coca Cola Sound Wave Discovery Tour. Letztere bescherte dem Quartett nach einem Auftritt bei Rock am Ring (siehe ME 8/2007) jetzt diesen Trip nach Istanbul. So was ist natürlich Zunder fürs Selbstbewusstsein, das angenehmerweise noch von einer guten Portion Ungewissheit gedeckelt wird. Denn trotz aller Erfolge – der entscheidende Schritt steht noch aus:
„Wir wollen nicht irgendwas unterschreiben“, sagt Chris ganz im Sinne seiner Band, wenn er über den erhofften Plattenvertrag spricht. Ein Indielabel mit einem großen Vertrieb im Rücken, das wär’s, aber zu welchem Indie soll der Mainstream-Rock von aVid* passen? Also doch ein Major? Und unentwegt die Angst im Nacken, dort nur eine kleine Nummer zu sein? „Eigentlich haben wir noch nichts geschafft“, sagt Chris nachdenklich, während er im VIP-Zelt an seinem Bierchen nippt.
Aber immerhin: Zurzeit macht dieses „Nichts“ viel Spaß: die Reise im großen Tross – mit Tourmanager, Coca-Cola-Vertretern, iTunes-Abgesandten und Pressemenschen im Schlepptau; die kulleräugige Aufmerksamkeit der Mädchen im Organisationsteam des Festivals; die Aufregung vor dem Gig und die Erleichterung danach; die Interviews fürs türkische und pakistanische Fernsehen; das Hotel mit seinen 26 Stockwerken; das Leben als Rockstar in spe. Schöner und reiner wird das Gefühl, etwas Großes sein zu können, womöglich nie wieder. „Wir wissen das“, sagt Chris.
Die zehn Minuten sind um. Das Intro dröhnt aus den Boxen. Hier, in Istanbul, sind aVid* keine Newcomer, die auf der Altemativ-Stage um ihre Chance spielen, hier sind sie Stars, die es in Deutschland zu etwas gebracht haben und im Ausland zum nächsten Karrieresprung ansetzen. Nacheinander kommen sie auf die Bühne – Scholle als Erster, dann Julian und Steph, zuletzt Sänger Chris. „Merhaba!“, ruft er „Hallo!“ auf Türkisch – und das Publikum jubelt. „Tc ekkür ederim“, sagt Chris, „Danke!“ Das Publikum tobt.
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