Rock me Amadeus
Mit Orffs "Carmina Burana fing es an. Der Kraft-Chor, "bekannt aus der Nestle-Werbung", setzte Massen junger Plattenkäufer in Bewegung, die Klassik-Läden melden Umsätze wie nie. Marketing-Strategie für die neue Käuferschicht: Hip mit dem Haydn-Hype. Pavarotti wird zum Pop-Star, die Klassik-Kassen klingeln, die Industrie wäscht ihren Händel in Unschuld. Hauptsache, die Kunst geht nicht den Bach hinab.
Beethovens Neunte paßt zu Pfanni wie der Arsch auf den Eimer. “ Hans-Peter Albrecht von der Münchner Werbeagentur Wiischner und Rohwer hatte zu keiner Zeit Probleme mit seiner Klassik-und-Kartoffelkost-Kombination. „Pfanni packt alte Werte in sein Image und will gleichzeitig modern sein. “ Also denn: Reibekuchen in die Fertigpackung, schnieke gestylte Leckermäuler in den Werbespot und dazu „Freude, schöner Götterfunken“. Kommt gut, man muß sich nur trauen. Nach dieser Devise pfeifen mittlerweile viele Macher in allen Bereichen der Musiklandschaft (und nicht nur in den Werbeagenturen) auf Ehrfurcht vor den alten Komponisten und blasen lieber frischen Wind ins Kulturgut. Bis der Puder nur so staubt: „Höchste Zeit, die Klassik aus ihrem elitären Ghetto zu holen“, meint zum Beispiel Götz Elbertzhagen, der als Geschäftsführer des Kick-Verlags und der Marketing-Firma EM-Press Pop-Größen wie Grönemeyer, Westernhagen oder Pur vermaktet und verwaltet. CD-Gieant Philips bat Elbertz- ¿
hagen um unkonventionelle Verkaufsideen für den Klassik-Sektor. „Natürlich hat man dort gestaunt, als ich sagte, ,ich kann keine Noten lesen, ich kann kein Werk künstlerisch einschätzen, ich kann nur sagen: ich rnag’s oder ich mag ’s nicht.‘ A her es geht doch darum, daß einen etwas ins Herz trifft. Egal warum. Klassische Musik ist kein Wundertier. Das muß man dem Publi-. kum klarmachen. Die Veränderungen in der Branche beginnen nur ganz langsam, aber zumindest verschwindet schon mal die Schere im Kopf. „
Kann man so sagen. Klassik nur in Frack und Fliege? Der britische Bogen-Punk Nigel Kennedy geigt uns die ,Vier Jahreszeiten“ auch in Jeans. Klassik nur in altehrwürdigen Philharmonien? Luciano Pavarotti holt Zehntausende zum Liederabend ins Open-Air-Stadion. Klassik nur für kiinstbeflissene Intellektuelle? Bei Orffs „Carmina Burana“ kriegen auch Kids mit Baseballkappe oder Lederjacke große Ohren, spätestens seit die wuchtigen „0 Fortuna“-Chöre von Carl Orff einen Nestle-Werbespot untermalten. Die Plartenfirma Sony hängte sich mit RENDEZVOUS DER SINNE dran, der „sinnlichsten Classic-Collection der Musikgeschichte“ (so der bescheidene Werbeslogan) mit altbekannten Knallern vom „Bolero“ bis zu Griegs „Peer Gynt-Suite“, alles auch bekannt aus Funk- und Femseh-Reklame. Im Werbespot für das Album erschallt natürlich wieder ein Stück der „Carmina Burana“, vom Spreeher mit einem wahrhaft durchschlagenden Argument in den Himmel gehoben: „bekannt aus der Nestle-Reklame“. 0 Fortuna!
Die Schicksalsgöttin scheint der Klassik-Branche ohnehin wohlgesonnen zu sein, schon seit Einführung der CD: „Das Geschäft mit Langspielplatten war deutlich zurückgegangen“, erinnert sich der Geschäftsführer des Klassik-Multi DECCA in London, Roland Kommerell. „Zu Beginn der Achtziger steckten wir in einer Krise. Aber dann haben wir unseren gesamten Katalog auf CD wieden’eröffentlicht. Ich glaube, viele ernsthafte Klassiksammler haben alles doppelt: auf LP und auf CD.“
Der Boom hält an. In Deutschland übertraf der Absatz von Klassik-CDs. -LPs und -MCs 1990 mit 14,4 Millionen Stück erstmals die bisherige Bestmarke von 1980. Und nachdem nun auch musikliebende Ossis in die Regale greifen dürfen, feierten die Finnen Mitte 1991 ein Umsatzplus von 28 Prozent — das beste Halbjahresergebnis überhaupt.
Trotzdem: die Branche muß umdenken, will sie Stagnation verhindern, denn ihr Schlager-Vorrat ist begrenzt: Phil Collins tüftelt unablässig neue Hits aus, aber Vivaldi und Beethoven machen keinen Finger mehr krumm. Die exotischeren Vertreter alter Klangeskunst, teilweise noch unentdeckt, sprechen nur Klein-Teile des Publikums an, und zeitgenössische E-Musik ist in den Ohren der Masse elitärer Quark. Also lebt das Klassikgeschäft im wesentlichen von immer wieder neuen Einspielungen des ünmer gleichen Repertoires. Wie im Pop — wer kauft schon zwölf verschiedene Versionen von „Knocking On Heaven’s Door“? EMIs Marketing Director Klaus Werner, voll im Trend: „Noch ’ne Neunte Sinfonie? Unmöglich. Abo müssen wir uns was anderes einfallen lassen.“
Die zuständigen Kreativköpfe brauchen dabei noch nicht mal neue Trends zu erfinden — sie können bereits vorhandene nutzen. Roland Kommerell: „In den Konzerten sitzen immer mehr Junge, die draufgekommen sind, daß auch Klassik stimuliert und anregt. Und die Leute aus der Baby-Boom-Generation sind erwachsen
geworden. Denen wird Rock & Roll langsam zu laut, aber musikalische Unterhaltung mögen sie immer noch. „
Jetzt muß man die Youngsters nur noch gezielter beglücken und auch für andere Einsteiger die Hemmschwelle senken. Neue Verpackungen müssen her, neue Verkaufsmaschen, neues Umfeld.
Der junge Geigenvirtuose Nigel Kennedy warf genau zum rechten Zeitpunkt alle Konventionen über den Haufen: Er zeigte sich mit Dreitagebart und Stirnband, wagte Ausflüge in Jazz- und Pop-Gefilde, nannte sein sündhaft-wertvolles altes Instrument respektlos „Fiedel“ und benahm sich in Restaurants fotogen daneben. Konservative Kritiker, die seinen Bogenstrich bejubelt hatten, als er noch brav war, verrissen seine radikale Version von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ zwar erwartungsgemäß beleidigt als „Gekratze“. Das juckte Kennedy natürlich wenig — kommerziell gesehen ist er der Absahner des Jahres 1991.
Einen anderen Dreh demonstrierte ausgerechnet der leitende Sportredakteur der BBC in London. Privat ein großer Opern-Fan, wählte er als Erkennungsthema für die TV-Berichterstattung zur Fußball-WM in Italien „Nessun Donna“, eine Arie aus Puccinis Oper „Turandot“, gesungen von Luciano Pavarotti. Dessen Plattenfirma veröffentlichte eine Single dazu, startete eine fußballbezogene Pavarotti-Kampagne, und die Kunden griffen zu: „Nessun Dorma“ stieg flugs an die Spitze der britischen Pop-Charts und zog gleich noch das Album ESSEN-TIAL PAVAROTTI nach, das am Ende mehr als eine Million Mal über den Ladentisch ging. Es müssen viele Käufer darunter gewesen sein, die beim Namen Puccini zuvor wohl auf den Besitzer einer Eisdiele getippt hätten. Aber es kam noch besser: Kurz nach dem WM-Endspiel ließ „Fat Lucy“ Pavarotti sein umsatzträchtiges hohes „c“ wieder erschallen, diesmal in den Caracalla-Thermen Roms. Seite an Seite mit den zwei Nächst-Rentabelsten der Tenorliga: Placido Domingo und Jose Carreras. 750 Millionen Zuschauer saßen an diesem 7. Juli 1990 rund um die Welt am Fernseher, 10 Millionen Käufer legten sich das Großereignis anschließend auf Ton- oder Bildkonserve zu. Einmal mehr Klassische Tenöre an der Spitze der Pop-Charts in mehreren europäischen Ländern. Bingo!
An einem Beispiel wie „Nessun Dorma“ läßt sich wunderbar die Appetithäppchen- oder auch Schnipsel-Theorie untermauern, die von vielen Marketing-Strategen der Klassik-Vermarktung angeführt wird. Die wenigsten der verzückten Käufer dieser Single werden Puccinis Oper je ganz gehört haben, so wie die durch Nestle gewonnenen Orff-Fans der letzten Monate oft gar nicht wußten, daß der Titel „Carmina Burana“ für einen umfassenden Lied-Zyklus steht. Aber die Schnipsel in WM-Trailer oder der TV-Werbung machten neugierig.
Auch Filme regen an: Vor einigen Jahren löste „Amadeus“ eine Mozart-Welle aus; nicht nur durch die schönen Musikauszüge. Der Film schaffte, was kein Musik-Unterricht in Schulen je hinbekommen hat: Plötzlich war das Wolferl kein unankratzbar-langweiliges Monument mehr, sondern ein saufender und furzender Hallodri, ein genialer Lachsack. Im Herbst dieses Jahres kam das Opem-Melodram „Zauber der Venus“ in die Kinos, und wenig später staunten Verkäufer in Klassik-Abteilungen allüberall. Gabi Kaulitz von Saturn Hansa in München: „Plötzlich interessieren sich junge Leute für Wagners, Thannhäuser‘, ¿
von denen ich das wirklich nicht erwartet hätte.“
Die Plattenindustrie dachte weiter und präsentiert seit einigen Monaten in einem nie dagewesenen Ausmaß ganze Platten mit Schnipseln. Schon vor Sonys Nestle-getriebenem Werbe-Sampler kam in England eüie ähnliche Zusammenstellung namens CLASS1C EX-PER1ENCE hoch in die Pop-Hitparaden. Philips lockt mit langsamen Einzelsätzen aus Sinfonien und Konzerten die Hörer ZWI-SCHEN TAG UND TRAUM (so der Titel der Sammlung), und EMI veröffentlicht schon die zweite Folge von HEAVY CLAS-SIX, mit einem Schwermetai-Cover, auf dem Wagners Walküre als Megadeth-Groupie gestyled wurde (Motto der Platte: „16 klassische Powerhtts, komponiert mit aller Kraft“). Auch hiei gilt; die Standardhebunge, meisi in Ausschnitten. „Vier Jahreszeiten‘, „Carmma Buiana“, „Feuerwerksmusik“, „Bolero“ (der nie fehlen darf, seit Bo Derek als Leinwand“Traumfrau“‚ im Ravel-Rhythmus rammelte).
Mit dabei, logisch, die Neunte Sinfonie von Ludwig van, natürlich wieder nur der berühmte Schluß-Chor. Was zuvoi niemand gewagt hatte: EM] beauftragte einen Pop-erfahrenen Toningjneui, das Zwanzig-Minuien-Teil auf die Hallte zusanunciizuschneiden. Heiliger Schnipsel! „Wir müssen zu solchen Mitteln greifen“, verteidigt Klaus Wernei die rigorose Operation. “ Unser Produzent sagte zwar auch: ,Eines Tages wird Ihnen Beethoven im Schlaf erscheinen ‚, aber diese Platten sind ja nur ein Anreißer. Wir wollen bei den Leuten Interesse wecken:. Wie gehl die Neunte eigentlich weiter?‘ Und da mag Beethoven im Grab rotieren, da mögen die Kulturteuilleionisten und alle puristischen Graishuter schäumend „O Fortuna!“ schreien Werners Argument ist nicht von dei Hand zu weisen. Schon vor über zwanzig Jahren ließ Miguel Rios mit dem „Song Of Joy“ das Beethoven-Original boomen, und heute gelangen eben, von Nestle katalysiert, bemerkenswert viele Original-Gesamteinspielungen dei „Carmina Burana“ unters Volk. „Die sind von der Werbung odei sonstwas geimpft“, beschreibt Gabi Kaulitz ihre neue Klassikkunden-Spezies, „kaufen die ,Carmina Burana‘, kommen am nächsten Tag mit leuchtenden Augen wieder und fragen: ,Haben Sie noch was in der Art ?‘ Die, Carmina Burana‘ gibt ’s aber nur einmal. Ich versuche dann, etwas anderes zu empfehlen, mit der Auflage, daß die Kunden wiederkommen und mir erzählen müssen, ob’s ihnen gefallen hat. Und die kommen wieder! Und verlangen begeistert: ,So, und jetzt noch was in der Art!“
Angesichts dergleichen schrupselgeleiteter Entdeckerlust kann Beethoven eigentlich wieder Ruhe finden in seinei Kiste. Selbst einer wie Wolfgang Sawallisch, Chef der Bayerischen Staatsoper, drückt ein Auge zu: „Ich wurde im Konzert niemals nur Einzelsatze dirigieren. Aber bei den großen Planenfirmen heiligt der Zweck eben die Mittel. Und ob mir das paßt oder nicht: Vielleicht kann man auf diese Weise ja vermitteln, daß Beethoven halt einen Weltschlager geschrieben hat. „
So sieht man das auch beim privaten Klassik-Radio in Hamburg. Keine drogen Werksverzeichnisse und Opus-Nummern in der Moderation, keine ganzen Sinfonien im Tagesprogramm. „Radio ist ein Medium zum Nebenbeihören, und dem tragen wir Rechnung“, erklärt Redakteur Joachim Salau.
„Wir reden normal mit den Leuten, wir entstauben die Klassik. So haben wir auch Hörer von Pop-Programmen gewonnen.“
Kein Wunder, daß sich Götz Elbertzhagen auf dem richtigen Dampfer sieht, wenn er versucht, seine Pop-Erfahrung in den Klassikbereich zu übertragen. „Pop-Stars“, so Elbertzhagen, gebe es dort auch. „Pavarottis Taschentuch ist ein Markenzeichen wie bei Matthias Reim die Lederhose. Wie professionell der sich vermarkten läßt, das ist großartig. “ Eines der ersten Projekte Elbertzhagens für Philips war Leonard Bernsteins Operette „Candide“: „Wir sind mit einer Aktion an die Pop-Radios gegangen. Verlosungsaktionen, Spezialssendungen — das Feedback war hervorragend. Hörer riefen an:,Spielt öfter mal Klassik!‘ Da waren auch Rolling-Stones-Fans dabei“ Elbertzhagen erlebt bei seiner Vermarktungs-Arbeit natürlich immer wieder Berührungsängste bei Pop-Programmachern, die sich ohne Vorbildung dem hehren Thema nicht gewachsen fühlen. Und allzu festgefahrene Konventionen in Industrie und Handel: „Wieso soll man nicht Wildplakatierung fiir Klassikplatten machen? Ich achte immer auf Plakate an Bauzäunen, wenn ich durch die Stadt fahre, Klassikzeitschiften les ich aber keine. Wieso nicht Pavarotti neben Phil Collins im Plattenregal?“
Die Hamburger Firma hast West-Records ist schon einen Schritt weiter – mit FOREVER YOUNG vereinte sie je 12 Pop-Songs und Klassik-Hits auf einer CD, Collins nach Bach, Simply Red nach Schumann. Auch hier die Klassiker mehr oder weniger zusammengeschnitten. Bei dem Schnipsel-Boom geht es ohnehin nicht darum, die Originale für die Pop-Generation umzubiegen oder Altehrwürdiges gar mit Dance-Beats zu unterlegen. Für Elbertzhagen ist es nur der Versuch, ein bestehendes Interesse auch richtig zu nutzen. „Wir haben viel zu viel Respekt vor der Klassik und gehen mit viel zu viel Kopf an diese Musik heran. Die Trennung zwischen E- und U-Musik ist so unsinnig wie die zwischen Pop und Schlager“, urteilt der Kölner Erfolgs-Verkäufer. Und träumt von einer musikalischen Zukunft ohne Grenzen: „Langfristiggesehen wollen wir Pavarotti aufs Titelbild der Bravo bringen. “ Freude, Schöner Götterfunken.