Rock Dog


EMI wird 100. Ein Grund zum Feiern. Zumal mit dem Wappentier der Firma, dem Terrier "Nipper", auch die Geschichte der Schallplatte begann -von Enrico Caruso über die Beatles bis hin zu Radiohead.

Wenn Du den Atem der Geschichte spüren willst, fahr‘ hinüber zum Canary Wharf Tower! 100 Jahre EMI sind gleichbedeutend mit der Geschichte der Schallplatte.“ Große Worte, aber David Hughes, einer der Manager in 43, Brook Green, der Konzernzentrale der britischen Thorn EMI, hat recht: Die Ausstellung zum 100jährigen Firmenjubiläum, die in den Londoner Docklands noch bis zum 12. Januar ’98 unter dem Titel „Come on, come on“ zu sehen ist, dokumentiert tatsächlich nichts weniger als die bewegte Chronik des Plattenmachens – von den bescheidenen Anfängen Ende des letzten Jahrhunderts bis zu den schrillsten Auswüchsen multimedialer Popkultur. Und wie es sich für eine Plattenfirma gehört, feiert EMI den Geburtstag mit Pauken und Trompeten: Sir Paul McCartney, neben Cliff Richard der erfolgreichste Künstler der EMI-Geschichte, schrieb zum Jubelfest ein klassisches Werk mit dem Titel „Standing Stone“, das er am 14. Oktober mit dem London Symphony Orchestra in der Royal Albert Hall uraufführen wird.

Und natürlich ist McCartney auch im Canary Wharf Tower allgegenwärtig. Denn dort ist nicht nur das MischDfe Stimme sein« Herrn: Der Maler Francis Barraud (oben links) schuf Ende des letzten Jahrhunderts mit dem abgebildeten Gemälde das bekannteste Markemekhen der Plattenbranche pult zu sehen, mit dem 1962 die ersten Beatles-Aufnahmen im berühmten Abbey Road Studio Two bearbeitet wurden. Gleich neben der altertümlichen Konsole, die wie die Steuerungsanlage eines Heizkraftwerkes anmutet, befinden sich unter dickem Panzerglas zwischen den echten Mastertapes der Fab Four auch die Dokumente, mit denen die Herren McCartney, Lennon, Harrison und Starr 1967 ihren Vertrag mit der EMI verlängerten. Nicht-Beatles-Fans kommen ebenfalls auf ihre Kosten. Neben

den verschiedensten Exponaten (von der Original-soies-Musikbox über den Bühnenanzug von Gary Glitter bis hin zu Cliff Richards erster Gitarre) tönen an jeder Ecke Musikbeispiele und flimmern Filme über zahlreiche Leinwände. Nicht zuletzt gibt’s einen unterhaltsamen Crash-Kurs in Sachen Tontechnik. So kann jeder Besucher seinen persönlichen Vierspur-Mix des Hollies-Klassikers „He Ain’t Heavy… He’s My Brother“ produzieren oder eine naturgetreue Nachbildung des heutigen Abbey Road Studios bestaunen.

Am Anfang der langen EMI-Geschichte jedoch steht ein kleiner Herr mit Hakennase und eindrucksvollem weißen Vollbart. Blenden wir mehr als hundert Jahre zurück: ein winziges Atelier irgendwo in London, Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Der Maler Francis Barraud hat gerade die Arbeit an einem Gemälde beendet und sortiert seine Pinsel. Zur Entspannung will er Musik hören und legt eine Tonwalze in seinen Phonographen ein. Kaum ertönt die blecherne Stimme aus dem Gerät, springt Barrauds schwarzweiße Terriermischung Nipper auf den Tisch, hockt sich vor die quäkende Maschine, stellt die Ohren auf und starrt neugierig in den riesigen Trichter. Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf versucht Barrauds kleiner Freund angestrengt herauszufinden, woher die seltsame Stimme kommt. Amüsiert betrachtet der Maler den kleinen Hund – und hat eine Idee: Als Nipper wieder einmal das rätselhafte Plärren des Phonographen untersucht, läßt Barraud ihn fotografieren und benutzt das Bild als Vorlage für ein Gemälde.

Vergeblich versucht Barraud in den folgenden Jahren bei Herstellern von Phonographen und Musikverlegern, das Bild zu verkaufen – man zeigt sich desinteressiert.

Dann, 1899, ersetzt der inzwischen 43jährige Maler auf An raten eines Freundes den ursprünglich auf dem Gemälde abgebildeten Phonographen durch ein Grammophon. Die klobige Kiste mit dem goldglänzenden Trichter wird nicht mehr mit den beim Phonographen üblichen zylinderförmigen Walzen betrieben. Statt dessen werden als Tonträger jetzt einseitig gepreßte Schellackplatten verwendet. Barraud wird mit der kurz zuvor gegründeten Gramophone Company Ltd., die das von Emil Berliner in Amerika entwickelte Gerät und die dazugehörigen Platten verkauft, handelseinig: Für 100 englische Pfund wechseln das Bild und die Rechte daran den Besitzer-die Gramophone Co. ist im wahrsten Sinne des Wortes auf den Hund gekommen. Der Deal mit den Herren aus 31, Maiden Lane, wohl den ersten Plattenbossen der Welt, macht Barraud zwar nicht reich, dafür aber unsterblich. Denn die junge Firma, die im November 1898 einen ihrer ersten Plattenkataloge veröffentlicht hatte, ziert ihre Produkte fortan mit seinem Gemälde und führt 1901 das Markenzeichen „His Master’s Voice“ (HMV) ein. So wird der schon Jahre zuvor verblichene Nipper posthum zu einem der berühmtesten Hunde der Welt. Und zum Synonym für eine ganz neue Industrie.

Mit der Verbreitung der ersten Grammophone wird Musik erstmals in der Geschichte auch außerhalb von Varietebühne und Konzertsaal verfügbar. Man muß nur die runden Schellackscheiben auf das Grammophon legen, und schon singen und spielen die musikalischen Größen jener Tage im heimischen Wohnzimmer. Schnell wird die Schallplatte zum Massenartikel. Die in Hannover ansässigen Fabrikationsstätten der „Deutschen Grammophon Gesellschaft“, einer Tochterfirma der Gramophone Co., fertigen schon 1901 pro Tag bis zu 10.000 Schallplatten. Und nur ein Jahr später hat die Plattenfirma ihren ersten Megastar. Am 18. März 1902 macht der neapolitanische Tenor Enrico Caruso in Mailand unter der Regie des Toningenieurs Fred Gaisberg seine ersten Aufnahmen. Zusammen mit anderen damals berühmten Gesangskünstlern wie Nellie Melba, Emma Calve und Adelina Patti kurbelt Caruso das noch junge Plattengeschäft kräftig an.

Ein Problem jedoch macht den tollkühnen Männern in ihren archaischen Tonstudios in den Kindertagen der Schallplatte ernstlich zu schaffen: Die meisten Sänger weigern sich strikt, das Gekrächze, das ihnen nach dem Aufnahmevorgang aus dem Schalltrichter des Grammophons in die Ohren dringt.als die eigene Stimme anzuerkennen. Und das liegt weniger an der bescheidenen Tonqualität, sondern eher an dem noch weitgehend unbekannten Phänomen, daß die Stimme eines Menschen im dessen eigenem Kopf anders klingt als auf einem Tonträger. Viele Künstler weigern sich daher zunächst, die Aufnahmen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – sie fürchten um ihren guten Ruf. Am Ende aber lassen sie sich doch überreden.

Im Jahr 1911 geht eine kleine Auswahl der klingenden Schellackplatten zusammen mit einem Grammophon gar auf eine denkwürdige Reise. Der britische Polarforscher Robert F. Scott will während seiner gefährlichen Expedition in die unwirtliche Antarktis nicht auf musikalische Unterhaltung verzichten. Scott und seine Mannen erreichen mit ihrem Grammophon tatsächlich am 18. Januar 1912 den Südpol, allerdings nicht wie geplant als die ersten – das war einen Monat zuvor dem Norweger Amundsen gelungen. Der demoralisierte ¿

Scott und seine entkräftete Mannschaft kommen auf dem Rückmarsch, geschwächt durch Hunger und eisige Kälte, ums Leben. In den Tagebüchern des Expeditionsleiters, die erst Jahre später gefunden werden, erzählen einige Passagen von der Trost und Freude spendenden Kraft der Musik, die die unglücklichen Männer auf ihrem letzten Marsch durchs ewige Eis hörten.

Trost und Freude spenden die immer beliebter werdenden Produkte der Gramophone Co. auch im ersten Weltkrieg. Und als Teile des hauseigenen Preßwerkes, der außerhalb Londons gelegenen Hayes Factory, zur Munitionsfabrik umgerüstet werden, schickt die Gramophone Co. ihre beliebtesten Künstler für Mittagspausenkonzerte ins Werk, um so die Kriegsmoral der Arbeiterinnen zu stärken. 1918 bringt die Firma eine der wohl bizarrsten Platten ihrer Geschichte auf den Markt. Viele Menschen glauben damals mit dem Schriftsteller H.G.

Der erste Megastar: 1901 besang der italienische Tenor Enrico Caruso (oben) sein« ersten Schallplatten für die Gramophone Co. Seit 19)1 verbirgt sich hinter der unscheinbaren Fassade von No. 3, Abbey Road, das berühmteste Tonstudio der Welt (unten) Wells, daß dieser erste Weltkrieg alles weitere Kriegführen für immer beenden wird – so auch die verantwortlichen Herren der Gramophone Co. Also schicken sie den Chef ihres Londoner Tonstudios, William Gaisberg, im Oktober 1918 an die französische Westfront, um den Schlachtenlärm für die Nachwelt zu dokumentieren. Gaisberg bannt einen Gasangriff der Royal Garrison Artillery auf Platte. Kurz nach Beendigung des Krieges erscheint das tönende Zeugnis unter der Bestellnummer HMV 09308. Für Gaisberg endet die Produktion tragisch – er erliegt im November 1918 einer Gasvergiftung, die er sich beim Fronteinsatz in Frankreich zugezogen hat.

Die Zeit zwischen den großen Kriegen entwickelt sich für die Gramophone Co. zu den „Goldenen Jahren“. Bedeutende Neuerungen auf technischem Gebiet ermöglichen immer bessere Tonqualität; mit der Entwicklung der ersten Mikrophone und der Röhrenverstärkung ist der entscheidende Schritt vom mechanischen zum elektrischen Aufnahmevorgang geschafft. Die massenhafte Verbreitung des Radios, übrigens ein weiterer erfolgreicher Geschäftszweig der Gramophone Co., begünstigt den Aufstieg der Schallplatte. So werden zum Beispiel die Berliner Comedian Harmonists.die seit

1928 bei der deutschen Electrola erscheinen, zu den ersten Stars mit europaweiter Popularität. Und in London werden Anfang der 30er Jahre die Weichen für eine rosige Zukunft gestellt. Zunächst fusioniert die Gramophone Co. mit der Columbia Graphophone Company. Das gemeinsame Unternehmen nennt sich Electric & Musical Industries (E.M.I.) und operiert mit den Plattenlabels „His Master’s Voice“ sowie „Columbia“ (nicht zu verwechseln mit der US-Firma gleichen Namens). Durch die Fusion werden die jeweiligen deutschen Tochterfirmen, Electrola GmbH und Carl Lindström AG,deren Label „Parlophone“ und „Odeon“ schon damals zu den erfolgreichsten zählen, zu Schwestergesellschaften. Die neue Partnerschaft bewirkt, daß die beiden deutschen Firmen in den 30er Jahren mit einem Marktanteil von zeitweise 85 % fast konkurrenzlos das Geschehen beherrschen.

Gleichzeitig beweisen die Firmenbosse in London mit einer weiteren Transaktion Weitblick. 1929 erwerben sie zum Preis von 100.000 Pfund ein Haus mit riesigem Grundstück im Nordlondoner Stadtteil St. John’s Wood. Die Adresse: No. 3, Abbey Road. Zwei Jahre lang wird die künftige Kultstätte aller Beatles-Fans umgebaut und mit der modernsten Technik ausgerüstet, die in jenen Tagen zu haben ist. Die drei Studios, die bis in die 70er Jahre ausschließlich EMI-Künstlern zur Verfügung stehen, werden auf die verschiedensten Bedürfnisse zugeschnitten: Studio i bietet Platz für ein 250-Mann-Orchester plus 1.000 Zuhörer, Studio 2 ist ideal für Bands und U-Musik-Produktionen, während das kleine Studio 3 vornehmlich für Klavierkonzerte eingerichtet wird. Mit einem Schlag besitzt der Plattenkonzern in 3, Abbey Road, den modernsten und größten Studiokomplex der Welt. Am 12. November 1931 werden die EMI-Studios, wie sie offiziell heißen, mit einem Konzert des London Symphony Orchestra unter Sir Edward Elgar eingeweiht. Ab sofort nimmt hier die Creme der Musikszene ihre Platten auf. Unter ihnen Klassiker wie der Yehudi Menuhin, Artur Rubinstein, Wladimir Horowitz, Maria Callas, der junge Herbert von Karajan oder Sir Thomas Beecham. Jazzer wie Fats Waller und Glenn Miller nutzen die Studios ebenso wie die Celebrities der Schlagerszene, etwa Gracie Fields, Vera Lynn und Joe Loss. Bis zum zweiten Weltkrieg hat sich Abbey Road als erste Adresse in der Musikwelt, vor allem der klassischen, etabliert.

Nachdem das Gebäude mit dem unscheinbaren Frontfassade Hitlers Bombenhagel unbeschadet überstanden hat, übernimmt 1954 Sir Joseph Lockwood den Vorsitz und die Geschäftsführung der EMI. Er setzt im Gegensatz zu seinen Vorgängern verstärkt auf die sogenannte U-Musik. Als Glücksgriff erweist sich zudem seine Entscheidung, 1956 die amerikanischen Firma Capitol Records zu erwerben. Die traditionsreiche US-Company bringt unter anderem Künstler wie Frank Sinatra und Nat King Cole in die Ehe ein und sichert EMI damit ein verläßliches Standbein auf dem Popmarkt. 1954 gelingt dem Trompeter Eddie Calvert zudem mit „Oh Mein Papa“ als erstem Künstler, der in Abbey Road produziert, eine britische Nummer Eins-Single. Für die rührigen Herren aus St. John’s Wood sollten noch viele folgen. 1958 entsteht in Abbey Road mit „Move It“ die Debutsingle von Cliff Richard, dem ersten ernstzunehmen

Rock n Roller im Vereinigten Königreich. Cliff und seine Shadows beherrschen fortan die britischen Charts nach Belieben – dabei sind sie nur die Propheten für das, was wenig später folgen sollte.

Es ist ein schwülheißer Abend, als es am 6. Juni 1962 in St. John’s Wood zur wohl folgenreichsten Begegnung in der Geschichte der modernen Popmusik kommt. Die erst zwei Tage zuvor für das EMI-Label „Parlophone“ verpflichteten Liverpooler Beatles erscheinen zu ihrer ersten Session. Eine halbe Stunde zu spät, wie sich Abbey Road-Hausproducer KenTownsend erinnert. Anwesend im Control Room von Studio Two sind neben Townsend auch sein Kollege Norman Smith, der Jahre später als Hurricane Smith noch einige Hits unter eigenem Namen landen sollte, sowie der Toningenieur Chris Neal. Das Beatles-Repertoire umfaßt vornehmlich Standards, die im Control Room jedoch niemanden vom Hocker reißen. Erst bei einer Eigenkomposition der Band, der späteren Debutsingle „Love Me Do“, wird Smith hellhörig. Er läßt den Parlophone-Labelchef George Martin rufen. Der zeigt sich zunächst zwar nur mäßig beeindruckt, aber, so die Legende, die respektlose Bemerkung des igjährigen George Harrison („Was mir hier nicht gefällt? Ihre Krawatte.“) läßt das Eis zwischen den rauhbeinigen Jungrockern und dem etablierten Plattenmanager schnell schmelzen. An diesem Abend findet ein Team zusammen, das in den folgenden Jahren die gesamte Popmusik revolutionieren sollte.

Für die altehrwürdige EMI, die den größten Teil ihres Umsatzes bis dahin mit Capitol-Stars wie den Beach Boys macht, erweisen sich die Beatles als Goldgrube. Neben einem beispiellosen Beat-Boom, der England erstmals zum führenden Land der Popmusik macht, sorgen Martin und die Beatles durch ihren Experimentiergeist auch für ungeheure Fortschritte in der Studiotechnik. Innerhalb von nur vier Jahren verwandeln sie das Tonstudio vom Ort mehr oder weniger naturgetreuer Aufzeichnung live gespielter Musik zur kreativen Sound Werkstatt und damit quasi zum zusätzlichen Instrument. EMI-Manager Mike Heatley, ein alter Freund der Beatles, der sich heute um die Vermarktung des Firmen-Kataloges kümmert, ist immer noch beeindruckt von der Leistung der Liverpooler: „Wenn man sich vor Augen hält, in welch einer kurzen Zeitspanne George Martin und die Beatles wirklich alles, was mit dem Plattenmachen zu tun hatte, auf den Kopf gestellt haben, dann ist das heute kaum zu glauben.“ Gipfel dieser rasend schnellen Entwicklung bleibt das epochale Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ von 1967. Nicht alle Musiker sind jedoch mit dem Genie der Fab Four gesegnet. Manch ambitionierter Kollege der Liverpooler vergaloppiert sich bei dem Versuch, es den cleveren Beatles gleichzutun. So ist überliefert, daß Allan Clarke, Leadsänger der Manchester-Band The Hollies, auf die abstruse Idee verfällt, sich während einer Gesangsaufnahme zwecks Optimierung des Klangs eine Baßtrommel über den Kopf zu stülpen – das Ergebnis der Aktion halten die Abbey Road-Produzenten indes für nicht der Veröffentlichung wert. Trotzdem gehören die Hollies neben den Beatles zu den erfolgreichsten Bands der 60er Jahre.

Ausgangs der Swinging Sixties macht zudem eine weitere junge Gruppe, die in den Abbey Road-Studios arbeitet, weltweit Furore. Unter der Aufsicht von Norman Smith spielen Pink Floyd mit ihrem genial-verrückten Mastermind Syd Barrett ihr Debutalbum „The Piper AtThe Gates Of DawrTein. Kurz darauf wird der hypersensible Barrett wegen seiner labilen psychischen Konstitution durch den Gitarristen David Gilmour ersetzt. Während Barrett kurze Zeit später in der Klapse landet, machen sich Pink Floyd auf den Weg in den Rockolymp. 1973 gelingt ihnen zusammen mit dem Toningenieur Alan Parsons ihre wohl erfolgreichste Platte, „Dark Side Of The Moon“. Für Parsons, der heute die traditionsreichen Abbey Road Studios leitet, war dies nach eigener Aussage „das erste Album, das ich in Abbey Road betreute, für das ich mich wirklich verantwortlich fühlte. Zudem waren Floyd die erste Gruppe, die die Möglichkeiten des Studios bis an die Grenzen ausschöpfte.“ Die Platte wird zu einem der erfolgreichsten Alben aller Zeiten. Sie bleibt 391 Wochen ununterbrochen in den US-Charts und geistert immer mal wieder durch die Hitparaden, zuletzt im Frühling dieses Jahres in Deutschland. Syd Barrett macht in Abbey Road nach zwei versponnenen Soloalben nur noch als Hausgespenst von sich reden. Dave Gilmour erinnert sich: „Manchmal tauchte er in den späteren Jahren plötzlich auf, wenn wir gerade in Abbey Road arbeiteten. Aber wir waren eigentlich von seinen Besuchen nie wirklich überrascht.“ Als Mitte der 70er Jahre der Punk heraufdämmert, reagiert das von Kritikern oft als bieder und betulich gescholtene „Mütterchen“ EMI schnell – und verbrennt sich die Finger. Im Sommer’76 schlagen die rüden Sex Pistols wie eine Bombe in der Londoner Szene ein. Manager Malcolm McLaren hat seine Schützlinge, allen voran Leadsänger John Lydon alias Johnny Rotten, zum furchterregenden Bürgerschreck stilisiert. Die Plattenfirmen überbieten sich gegenseitig, um die Band an Land zu ziehen, und EMI erhält den Zuschlag. Sie zahlt den Pistols einen Vorschuß in Höhe von 40.000 Pfund und bringt als erste Single „Anarchy In The U.K.“ heraus. Rotten & Co. benehmen sich wenig später bei der TV-Show „Today“ so sehr daneben, daß am folgenden Tag ein Sturm der Entrüstung durch das brave Königreich fegt und eine geplante 19-Städte-Toumee auf drei Gigs zusammengestrichen werden muß. In der damaligen EMI-Zentrale am Manchester Square zieht man die Notbremse und entläßt die Band umgehend aus ihrem Vertrag. A&M Records trauen sich als nächste an das heiße Punk-Eisen, werfen aber nach Proteststürmen ihrer Künstler Peter Frampton und Yes, die nicht mit den Pistols in derselben Firma arbeiten wollen, ebenso das Handtuch. Erst im Sommer ’77 finden die Pistols in Virgin Records einen Partner, der die kurze aber heftige Karriere der Gruppe betreut. McLaren indes lacht sich ins Fäustchen und zählt sein Geld. Zu den 40.000 Pfund der EMI sind noch 75.000 Pfund als Abfindung von A&M hinzugekommen nicht schlecht für ein bißchen Provokation und ein paar Monate Nichtstun.

Au« der EMI-Galerie: Zu dm ersten Stars der deutschen Electroia gehörten in den 10er Jahren die Comedian Harmonists (oben links). In den Swinging Sixties gelang den Hollies (oben) mit leichtgewichtigem Pop eine stattliche Hitterie. Pink Floyd, auf dem Bild recht! bei der Goldverleihung fiir“Obscured By Clouds“ im Jahr 1972 in Düsseldorf, entwickelten sich in den 70er Jahren lur Supergroup. Das derzeit beste Pferd im britischen EMI-Stall: Radiohead (gam rechts) mit ihrem Meisterwerk „OK Computer“

Rolle rückwärts um ein Vierteljahrhundert. Genauer: in das Deutschland der 50er Jahre. 1952 war die deutsche EMI-Dependance auf der Suche nach einem adäquaten Firmengelände auf eine ausgebombte Gummifabrik in Köln-Braunsfeld gestoßen. Innerhalb weniger Jahre wächst dort neben der Kreativabteilung der Firma eines der größten und leistungsfähigsten Preßwerke Europas. Zwar macht man mit nationalen Künstlern, die ihre Karriere vor dem Krieg gestartet hatten, nach wie vor gute Umsätze. Helmut Zacharias, Laie Anderson („Ulli Marleen“), Heinz Rühmann und Hans Albers sind nach wie vor beliebt. Sogar Marlene Dietrich nimmt i960 eine Platte für die deutsche Firma auf. Den aufkeimenden Rock’n’Roll jedoch verschläft man in Köln komplett. Günter Wehrke, seit 1961 bei der EMI Electroia und dort inzwischen für die Vermarktung des Repertoire-Kataloges zuständig, erinnert sich:“Damals saßen im Management nur ältere Herren, die keinerlei Zugang zu moderner Unterhaltungsmusik, geschweige denn ein Gefühl fürdieMusik derTeenager hatten. Heutzutage arbeiten in jeder Plattenfirma dynamische junge Leute, die ihre Szene kennen. Damals war daran überhaupt nicht zu denken. Erst Mitte der 60er Jahre verpflichtete die EMI Electroia mit den Lords ihre erste einheimische Beatgruppe.“

Und die sind natürlich eine Folge der durch die Beatles ausgelösten Rockwelle. Wehrke kümmert sich in den 6oern um das internationale Repertoire, ist also auch für die Beatles, die hierzulande auf „Odeon“ erscheinen, zuständig. Nur wenige wissen, daß Wehrkes Kollege Otto Dehmler derjenige ist, der die Liverpooler Weltstars dazu bringt, ihre Erfolgstitel „She Loves You“ und „I Wanna Hold Your Hand“ in deutschen Versionen herauszubringen. Wehrke: „Die Beatles waren damit einverstanden, auch um sich so bei ihren zahlreichen deutschen Fans zu bedanken. Eine witzige Folge dieser in Paris unter der Regie von George Martin und Norman Smith eingespielten Versionen war auch, daß wir die Titel auf ganz normalen deutschen Kopplungen verwerten konnten. So kam es, daß man auf einer Schlagerplatte des ‚Hör Zu‘-Labels so unterschiedliche Künstler wie Heino und die Beatles hören konnte.“ Um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß original Beatles-Titel seit Mitte der 6oer Jahre nie wieder auf einer Hit-Kopplung veröffentlicht wurden.

Heute ebenso unvorstellbar ist auch eine weitere deutsche Eigenheit in Sachen Beatles, von der Wehrke immer noch gerne berichtet: „In der Anfangszeit der Beatles haben wir einige Singles und EPs, zum Beispiel ‚Beatles Beat‘, veröffentlicht, die nirdas alles noch ein bißchen ctetergehandhabt.“ So verdienen die cleveren Kölner“.n^BJ^^OG^B^gj^aftswunderland auf Umwegen sogat ei i-Mark an den Pilzköpfen.

gendwo sonst auf der Welt erschienen sind. Dadurch, daß die ^ EMI-Tochter Capitol die Beatles zunächst in den USA nicht veröffentlichen wollte, erschienen deren erste Singles dort bei ani deren Firmen. Und mit denen machten wir damals unsere eigenen Verträge und sicherten uns auf diese Weise die I Beatles-Rechte für ‚ Deutschland. Heute wäre daran nicht zu denken. Aber damals wurde

Zurück in die Ausstellung in den Londoner Docklands. Dort stößt der Besucher noch auf einen weiteren wichtigen Impuls, den EMI-Künstler der Musikszene gaben. Lange bevor sich in den 8oer Jahren MTV weltweit etabliert, produzieren Queen einen aufwendigen Videoclip für ihre Single „Bohemian Rhapsody“. Der Clip sorgt zusammen mit dem für damalige Verhältnisse völlig abgedrehten Vokal-Arrangement dafür, daß der Song trotz seiner unerhörten Länge von sechs Minuten zur bestverkauften Single des Jahres 1975 wird. Queen schlagen ab Mitte der 70er Jahre eines der schillerndsten Kapitel der EMI-Geschichte auf, das seinen vorläufigen Schlußpunkt erst findet, als die Gruppe 1995, vier Jahre nach Freddie Mercurys AIDS-Tod, das posthume Album „Made In Heaven“ veröffentlicht.

Die 80er Jahre werden zu einer der erfolgreichsten Perioden der Firmengeschichte. Während in England Tina Turner, Iron Maiden, Duran Duran, die Smiths, Kate Bush und die Pet Shop Boys für stabile Chart-Präsenz sorgen, gelingt es der deutschen EMI erstmals, eigene Acts als nationale Superstars zu etablieren. BAP vollbringen 1982 das bis heute hierzulande einmalige Kunststück, mit einer neuen LP das eigene Vorgängeralbum von der Chartsspitze zu verdrängen. Willi Bongard, der BAP zur EMI brachte, schmunzelt noch heute: „Die Jungs hatten keine Ahnung vom Geschäft. Sie hatten ihr Album fertiggestellt und wollten es so schnell wie möglich veröffentlichen. Wir warnten sie, denn wenn man eine Nummer 1 hat, bringt man nichts Neues auf den Markt. Aber sie setzten sich durch.“ Zum zweiten einheimischen EMI-Superstar wird Herbert Grönemeyer. Mit „Bochum“ landet er 1984 den bis dahin größten Verkaufserfolg in der deutschen Rockhistorie.

In London residiert heute inmitten goldener Beatles-Platten ein freundlicher Gentlemen, der mehr als 25 Dienstjahre bei der EMI auf dem Buckel hat. Sein Name: Mike Heatley. Der Herr mit dem graumelierten Haar, dessen letztes Projekt, die „Beatles Anthology“, ihn „mindestens zwei Lebensjahre gekostet hat“, wie er grinsend beteuert, sieht der Zukunft gelassen entgegen: „Die Musik entwickelt sich immer weiter, und oft spielt der Zufall eine Rolle. Was wäre mit der Rockmusik passiert, wenn George Martin nicht die Beatles getroffen hätte? Die Geschichte hätte einen anderen Lauf genommen. Heute haben wir talentierte junge Bands wie Blur und Radiohead unter Vertrag. Sie entwickeln die Musik weiter, und wir kümmern uns darum, daß sie gehört werden.“

Und daß das lukrative Geschäft mit der Musik auch in den nächsten 100 Jahren im Zeichen von Nippersteht, dafür sorgen neben den EMI-Managern inzwischen sogar die Musiker selbst. So wird berichtet, daß Stones-Boß Mick Jagger beim Tauziehen um die Firma Virgin, bei der auch seine Band unter Vertrag steht, darauf bestand: „Wenn Virgin schon verkauft werden muß, dann bitte an ein britisches Unternehmen.“ Wen könnte er damit gemeint haben, wenn nicht EMI-Thorn? Im März 1992 war der Deal zwischen EMI und Virgin perfekt.

Check the Nipper! Sensationell! Einmalig! Unglaublich!

Der Leser möge den verbalen Holzhammer verzeihen – aber hier ist er angebracht: In diesem Monat sind auf der ME-CD ausschließlich unsterbliche Rockklassiker zu hören! Neben Beach Boys, Queen, David Bowie und Paul McCartney geben sich in den knapp 76 Minuten Spielzeit fast alle großen Stars der Firma, die den Hund im Wappen führt, ein Stelldichein. Dazu gibt’s eine gute Nachricht für alle Plattensammler: Anläßlich ihres 100jährigen Firmenjubiläums senkt die EMI Electrola für 120 Alben aus ihrem reichhaltigen Katalog die Preise erheblich. Die Aktion ist allerdings bis zum 30. November befristet – also zugreifen!

1 Queen Breakthru4:o6 2 Deep Purple Highway Star 6:05 3 Jethro Tüll Locomotive Breath 4:23 4 Paul McCartney a Wings Band OnThe Run 5:10 5 The Beach Boys WouldntltBeNice2:22 6 Huey Lewis & The News If This Is It 3:51 7BAP Widderlich 4:42 8 Whitesnake Here I Go Again 3:52 9 Iron Maiden Fear Of The Dark (live) 7:21 10 Freddie Mercury Mr. Bad Guy 3:53 11 David Bowie John, l’m Only Dancing2:44 12 Kate Bush Running UpThat Hill 5:00 13 Talking Heads Road To Nowhere 4:19 14 Pet Shop Boys West End Girls 3:59 15 Talk Talk Life’s What You Make It 4:27 16 RE.M. The One I Love 3:17 17 Blur Beetlebum 5:02