Robbie Williams


Take That waren die erfolgreichste Teenie-Band der Welt. Doch nur ein Mitglied schaffte den Sprung vom Posterboy zum ernstzunehmenden Popstar. ME-Autor Uli Hoffmann über das Phänomen Robbie Williams.

EIN JUNGER MANN RENNT HOCH IN SEIN ZIMMER, REIßT das Fenster auf und schreit in die Welt hinaus: „Ich werde ein Star!“ Das war im August 1990, und jetzt, beinahe eine Dekade später, ist es soweit. Robbie Williams mausert sich tatsächlich vom niedlichen Posterboy zum ernstzunehmenden Popstar. In England ziert er bereits die Cover der Zeitgeist-Gazetten „Q“ und „The Face“, die deutsche Ausgabe von „Max“ kürte ihn schon zum “ Millionär des Monats“. „GQ“ wählte ihn zum Solo-Künstler des lahres, „The Face“ und „Elle“ zum Mann des lahres. Und großherzige Kritiker vergleichen ihn gar mit seinem Vorbild Elton John. Robbie, der Böse von Take That, hat es tatsächlich geschafft. Und das, obwohl er nie der Sympathieträger der Boy-Band war. Obwohl er selten als deren Frontmann auftreten durfte – nur auf zwei TT-Stücken singt er überhaupt Leadvocals, „Could It Be Magic“ und „Everything Changes“. Robbie vögelte, er soff, er war der „bad boy“ bei Take That!

Andere Kinder wollen mit 15 Astronaut werden. Robbie wollte „Popstar werden. Ich hätte alles gemacht. Ich wäre nackt auf den Eiffelturm geklettert und hätte mir auf den Rücken geschrieben: ‚Möwen, scheißt mich an!'“ An einem Montag in besagtem August 1990 begannen die Proben. Robbie traf seine vier TT-Kollegen: den smarten Gary Barlow, den alternativen Jason Orange, den gutgebauten Howard Donald und den niedlichen Mark Owen. Robbie war – bewußt – als Außenseiter, als Störenfried, gecastet worden, und er wurde seiner Rolle mühelos gerecht. Fünf Jahre lang spielte er mit, dann flog er im Sommer 1995 aus der Band. In seinem schwarzen Jaguar, den Kofferraum voll mit geklautem Champagner, fuhr er zum Open-Air in Glastonbury und gab sich die Kante. Er soff, er warf Pillen, er kokste, und am Ende kletterte er noch zu Oasis auf die Bühne. Offiziell verließ er die erfolgreichste Boy-Band aller Zeiten auf eigenen Wunsch. Sein Abgang machte weltweit Schlagzeilen, Hunderttausende von Mädchen dachten an Selbstmord, Robbie-Hotlines halfen ihnen durch die harte Zeit, aber ein Girl brachte sich dann doch tatsächlich um.

Und das schien das Ende der kurzen Karriere des Robbie Williams gewesen zu sein. Er soff, er warf Pillen, er kokste, und er fraß. Robbie hätte mühelos der Andrew Ridgley oder Thomas Anders seiner Generation werden können (Andrew Ridgley war – neben George Michael – der andere von Wham, und Thomas Anders war/ist – neben Dieter Bohlen – der andere von Modern Talking, und keiner von beiden war solo erfolgreich). Ein halbes Jahr nach dem Rauswurf trennten sich auch die übrigen Mitglieder von Take That; alle vier kündigten Soloprojekte an. Robbie soff, kokste, schluckte und fraß. Ein halbes Jahr nach dem Split der Band war er aufgedunsen wie ein deutsches Schlachtschwein.

1996 veröffendichte er „Freedom ’96“, den alten George Michael-Hit, und landete damit einen Achtungserfolg (270.000 verkaufte Exemplare). Hintergrund: Sein Erzfeind Gary Barlow ist großer George-Michael-Fan. Der Song war also eine typisch trotzige Williams-Wahl. George Michael soll übrigens später gesagt haben: „Gary Barlow ist völlig unbegabt.“ Wasser auf Robbies Mühlen. Mit seinem Haß auf die Take-That-Zeit ist Robbie noch lange nicht fertig, was man auch seinen trotzigen Widerstands-Lyrics auf den mittlerweile zwei Soloalben anmerkt. Seine TT-Platinplatten jedenfalls hat er aufs Klo gehängt. Immerhin: Weggeschmissen hat er sie nicht.

Auf „Freedom“ folgten ein paar weitere halbherzige Singles, dann kam das Album „LifeThru A Lens“ – und verkaufte schlappe 33.000 Stück in den ersten acht Wochen. Das ist zwar ein ordentlicher Achtungserfolg für einen aufstrebenden Nobody. Für Robbie Williams aber, der wenige Monate zuvor unter hundert Millionen kreischenden Mädchen gar nicht auf die Bühne ging, waren 33.000 verkaufte Einheiten lächerlich und demütigend. Gary Barlow hatte inzwischen sein Seichtpop-Album „Open Road“ auf den Markt geworfen. Robbie kaufte sich eins bei HMV, nur um es am nächsten Tag laut schimpfend zurückzubringen. Er wolle sein Geld wiederhaben, weil die Platte „komplette Scheiße“ sei. Heute sagt er über derartige Aktionen: „Ich fand das damals lustig.“

Robbie hatte sein erstes Album im Vollrausch eingespielt, und keiner wollte es haben. Selbst seine größten Fans wandten sich desinteressiert und leicht angeekelt von dem fetten Wrack ab, das da durch die hämischen Klatschseiten der Londoner Boulevard-Zeitungen wankte. Robbies Plattenfirma Chrysalis wollte als letzen Versuch „Let Me Entertain You“ auskoppeln. Doch dem depressiven Robbie war gar nicht danach, irgendwen zu entertainen. „Mir fehlte zu diesem Zeitpunkt das Selbstbewußtsein für so eine Nummer“, gibt er zu. Zwei Tage vor dem Videodreh kippte er die Veröffentlichung. „Ich hätte niemandem vorschlagen können: ,Let me entertain you'“, sagt er heute, „denn es hätte ja jemand ,Nein, danke‘ sagen können…“

Also erschien im Dezember 1997 „Angels“, und die winterliche Ballade ließ die Albumverkäufe innerhalb eines Monats von 33.000 auf 300.000 hochschnellen. Zwei Wochen später hatte „Life Thru A Lens“ Doppelplatin, inzwischen wurden weltweit über 1,2 Millionen Exemplare abgesetzt – mehr als von den Soloalben all seiner ‚IT-Kollegen zusammen. 28 Wochen nach Veröffentlichung stand Robbies Album an der Spitze der britischen Charts. Und „Let Me Entertain You“ wurde nicht nur doch noch ausgekoppelt, sondern inzwischen zur inoffiziellen Williams-Hymne gekürt. Sogar die offizielle Robbie-Williams-Bio (deutsch bei Droemer Knaur, 19.80 Mark, erscheint im April) heißt so. Und nur darum geht es ihm. „Ich bin ein altmodischer Entertainer. Ich meine es sehr ernst, wenn ich sage: ,Let me entertain you‘. Laßt es mich versuchen, und ich garantiere: Ihr werdet eine fantastische Zeit haben“, sagt Robbie mit neuem Selbstbewußtsein. „Ich war schon immer davon überzeugt, einer der besten Entertainer zu sein! Und ich kann großartige Popsongs schreiben! Ich liebe Frank Sinatra, Sammy Davis )r“ Nat King Cole, Bing Crosby. Die großen Entertainer! Ich will auch der Beste in meinem Fach sein. Ich kann ja nichts anderes, als raus auf die Bühne gehen und den starken Mann markieren. Wenn Angeben eine olympische Disziplin wäre, hätte ich Gold, keine Frage. Ich kann nichts als entertainen, also kann ich auch genausogut der Beste sein wollen.“ (Robbie Williams‘ zweite Lebensweisheit: „Wenn es Titten oder Räder hat, hast du früher oder später jede Menge Ärger damit.“)

ROBBIE WILLIAMS MARKIERT ABER VOR ALLEM AUCH EINEN GENERATTonswechsel auf dem Planeten Pop. Rotzten Nirvana 1991 noch in die Mikros „Here we are, now entertain us“, so ist Robbie Williams eindeutig ein Dienstleister im Auftrag seines Publikums. Wer zahlt, um seine Platte zu hören oder ihn live zu sehen, hat seiner Ansicht nach ein verdammtes Recht darauf, so gut wie nur möglich unterhalten zu werden. Nicht mehr, nicht weniger. Die Vorstellung, dem Publikum quasi etwas zu schulden (und nicht als affiger Künstler aufzutreten) ergibt im Mix mit Robbies schrillen Lebenseskapaden den Stoff, aus dem die Rockstars sind. „Robbie Williams is fun“, urteilte selbst der kritische New Musical Express kurz und knapp. Denn Entertainment ist für Robbie Williams erfreulicherweise viel mehr als nur der Bühnenauftritt. Er rennt nackt über sein Hausdach (auf der lagd nach einem Einbrecher). Er ertränkt den Frust über den Streit mit seiner Verlobten Nicki und nimmt seine Saufkumpane mit aufsein Hotelzimmer, wo er besoffen einschläft und sie seinen Kopf mit Zahnpasta beschmieren. Und die Paparazzi sind immer dabei…

Williams gibt auch immer witzigere Antworten: „Ob ich viel lese? Klar, letzte Woche habe ich zwei Bücher durchgekriegt, und diese Woche male ich das dritte an.“ Oder. „Ein Frauenmagazin hat mir 130.000 Pfund für Nacktfotos geboten – 65.000 Pfund pro 20 Zentimeter meines besten Stücks.“ Robbie Williams ist ganz einfach ein 24-Stunden-ein-Mann-Zirkus. Aber das wirklich Bemerkenswerte ist: Williams ist weder ein besonders guter Sänger, noch ein begnadeter Komponist. Der Großteil seiner Songs ist bestenfalls gefallig, und auf Albumlänge gekoppelt geschieht hier nicht gerade ein musikalisches Wunder. Die Songs (die er mit seinem Produzenten und Keyboarder Guy Chambers schreibt) wirken einzeln meist besser als auf dem Album. „Angels“ galt vielen Rezensenten als einer der schwächsten Songs auf „LifeThru A Lens“ – im Radio entfallet der Song aber plötzlich einen ganz überraschenden Breitwand-Charme. Kuschelrock für Anfänger. Auch „Let Me Entertain You“, eine brachiale Kindergeburtstags-Rocknummer, gewann ihren ironischen Charme erst als Single mit KISS-artigem Video. Ähnlich der Effekt beim neuen, zweiten Album „l’ve Been Expecting You“. Die Single „Millennium“ geht als Track 3 fast unter schoß aber als Auskopplung in England von null auf eins. Auch andere Tracks – „Strong“ beispielsweise, „Man Machine“ oder „Karma Killer“ – funktionieren einzeln deutlich besser als im Verbund. An der musikalischen Genialität allein kann es nicht liegen, daß Robbie zumindest in seiner Heimat England den Sprung vom properen Posierboy zum richtigen Rockstar geschafft hat.

Nein, es liegt daran, daß Robbie so schön menschelt. Er hat das geschafft, wovon so viele träumen: Showstar werden und von Millionen Mädchen angehimmelt werden. Es gab Robbie als Bettbezug und Plastikpüppchen, und die Mädchen schwenkten Plakate mit der Aufschrift: „Robbie, fuck me!“ Dann hat er all das hingeschmissen, weil er den Preis für den Ruhm nicht mehr zahlen wollte: seine Freiheit, sein Seelenheil. „Ich habe mich total in der Promi-Hotelwelt verloren“, gesteht er. „Wenn ich pinkeln ging, war ein Bodyguard dabei. Noch drei lahre Take That, und ich wäre in der Irrenanstalt gelandet! Ich spielte in Japan vor 30.000 kreischenden Mädchen. Zu Hause ging ich in den Pub, und da unterhielten sich meine Freunde darüber, daß der Kopierer im Büro kaputt war. Ich hatte total den Bezug zur Wirklichkeit verloren!“ Er soff sich fett und war frustriert. Das war klug von ihm, denn wir Zuschauer können vielleicht keinen Flic-Flac und keinen Take-That-Tanz, aber fett sein und saufen – das können wir auch!

Und dann, wie Phoenix aus der Asche, hat er sich wiedererschaffen und triumphiert erneut. „Robbie Williams will kein Idiot mehr sein“, faßte die Münchner Abendzeitung seine Motivation zusammen – und wer könnte von sich behaupten, dieses Gefühl nicht selbst zu kennen? Die Botschaft, für die wir ihn lieben, steckt nicht in seinen Liedern, sondern in seinem Leben. Man kann fett und faul sein, und man kann es trotzdem nodi mal packen. Robbie hatte tief in sich drin immer das Gefühl: „Ich kann einer der größten Stars der Welt sein, wenn ich nur hart genug arbeite, mir gute Sachen anziehe und vernünftig rede.“ Jeder Wunsch kann in Erfüllung gehen, und Robbie Williams ist der lebende Beweis dafür. Selbst wenn er heute noch so englisch spricht, wie Roger Whittaker deutsch. Nur die taz fand auftragsgemäß etwas zu meckern: „Er ist von einer wenig wünschenswerten Durchschnittsnormalität, einer mit Schweißfüßen, Tropfnase und Mundgeruch. Er ist, wie du und ich nicht sein möchten. Er ist wie er und sie.“ Als ob die taz nicht gern mal 1,2 Millionen von irgendwas verkaufen würde…

ROBBIE WAR GANZ UNTEN, ER WAR SEHR WOHL EINER VON UNS – UND jetzt ist er (wieder) ganz oben. Ergo: Ich könnte auch da oben stehen – wenn ich nur wollte. Und der Robbie, das ist ein dufter Typ, und deshalb kauf ich jetzt mal seine Platte. Williams sagt dazu nur: „Man darf keine Angst haben. Man muß einfach da rausgehen und voll loslegen!“ Er hat den Sprung vom Nobody zum Comeback-Star geschafft, nachdem er in die Reha-Klinik ging. „Als ich mir das erste Mal eingestand, daß ich tatsächlich ein Drogenproblem habe, rief ich meinen Freund Elton John an. Er war der einzige, von dem ich wußte, daß er clean ist. Er hat mir sehr geholfen, und ich bin ihm unendlich dankbar.“ Wenig später checkte Robbie in die „Clouds House“-Klinik ein, verbrachte dort sechs Wochen („darüber gibt es nichts zu erzählen, das würde den therapeutischen Erfolg gefährden“) und kommt nun mit seinem Leben besser klar. „Ich habe letzte Woche was getrunken, aber ich kann mich noch an alles erinnern“, gestand er kürzlich, „und vor drei Wochen habe ich ein bißchen Koks genommen“. Er sei genauso süchtig wie jeder andere 24jährige in London. Die Zeit der bodenlosen Exzesse scheint vorbei zu sein. Robbie wirkt – für seine Verhältnisse – geradezu häuslich. Er machte seiner Freundin Nicole Appleton (eine der All Saints-Sängerinnen) schon im letzten Sommer einen Heiratsantrag. Sie nahm an, er ging fremd, sie ließ ihn sitzen. Er bettelte bei Nicole um Verzeihung, denn „ich fühlte mich wie der einsamste Mensch auf Erden“. Nun sind sie wieder zusammen, bei Redaktionsschluß ist eine Hochzeit für den Sommer geplant – und ein Baby für Herbst ’99 nicht ausgeschlossen. Kommentar Robbie: „Das Beste in dieser Beziehung ist es, sich gemeinsam schlafen zu legen.“ Schluß mit Sex & Drugs & Rock’n’Roll? „Ich lasse auf der Bühne den Sexprotz raushängen, aber danach gehe ich ins Hotel zurück und spiele Backgammon“, sagt er. Lind auch die Liste von Robbie Williams‘ aktuellen Lebenszielen spricht für einen inneren Wandel: „Ein klares Ziel, Liebe, Vertrauen, Verständnis. Es gibt nichts Materielles, auf das ich nicht verzichten könnte. Außerdem habe ich genug Geld für mein ganzes Leben.“

Nach seinem Abgang bei Take That stürzte Robbie Williams ins tiefe Tal der Super-Loser, und obwohl seine Mutter Drogentherapeutin ist, konnte er den krassen Abstieg nur mit Hilfe käuflicher Freunde aus Flaschen und Döschen verdauen. „Ich habe zum erstenmal mit 14 Acid genommen und auf Drogen eine Klassenarbeit versiebt“, gesteht er. „Mit 16 bin ich dann wirklich draufgekommen. Ich habe Speed genommen. Und dann habe ich rausgekriegt, daß man ziemlich lange durchhält, wenn man erst Ecstasy nimmt und dann später mit Koks nachfeuert.“ Im Grunde wollte er natürlich nur geliebt werden – und deshalb wurde es auch so schlimm, als ihn nach seinem Abgang bei TT kaum jemand mehr lieb hatte. Aber „ich wußte immer, ich schreibe gute Songs. Ich wußte, ich bin ein begnadeter Entertainer und habe das gewisse Etwas, das die Leute anspricht. Ich brauchte nur eine gewisse Bestätigung, um wieder Respekt vor mir zu haben.“ Und trotzdem muß er auch heute noch auf sich achtgeben. Sein neuestes Tattoo ist ein Maori-Design, das auf seiner linken Schulter beginnt und über seinen Rücken hinweg bis zum anderen Arm reicht. „Ich mag mich nicht leiden“, erklärt er die Riesentätowierung und fügt dann leiser hinzu: „Aber das Tattoo ist hübsch. Es ist ein Gebet, das mich vor mir selbst schützen soll.“

Seinen Solo-Vertrag mit Chrysalis schloß Williams am 27. uni 1996. Robbie arbeitete seit seinem Rausschmiß bei Take That im Sommer ’95 offiziell an einem Soloalbum. Im Januar 1997 nahmen die Plattenbosse sich ihren Neuzugang dann zur Brust. In nur 18 Monaten hatte Williams vier Co-Autoren verschlissen. Vorzuweisen hatte er nur zwei einigermaßen brauchbare Songs – keine gute Ausgangsposition für eine AJbumveröffentlichung. Chrysalis schickte ihn nach Miami zu Desmond Childs und Eric Bazilian (Bon Jovi). Die beiden wollten aus ihm eine Art britsches Gloria-Estefan-Pendant machen und ersonnen die für ihr Verständnis urbritische Nummer „The Boys In The Pub“. Robbie raffte sein letztes bißchen Verstand zusammen, lehnte ab, Lind zu dritt fabrizierten sie seine zweite Solo-Single (nach „Freedom ’96“) – „Old Before I Die“. Immerhin. Aber Robbie wäre nicht Robbie, wenn er einen sicheren LIS-Radio-Hit ertragen könnte. Daheim im verregneten England verwarf er die Childs/Bazilian-Produktion des Titels und suchte sich einen neuen Partner. Er fand Guy Chambers (Ex-World Party), schrieb mit ihm angeblich innerhalb von zehn Minuten „Angels“, produzierte und veröffentlichte „Old Before I Die“, schrieb und produzierte „LifeThru A Lens“, und der Rest ist Geschichte.

„Ich habe fünf große US-Hits abgelehnt“, faßt Robbie seine fruchtlose Zusammenarbeit mit Childs/Bazilian zusammen, „aber wenn ich so was hätte singen wollen, hätte ich ja auch gleich bei Take That bleiben können.“ Und Guy Chambers, um das noch hinzuzufügen, suchte er sich nicht etwa aus, weil er dessen Avantgarde-Band World Party gut fand, sondern weil der neue Freund seiner Mutter auf die Lemon Trees stand – die erfolglose Band, in der Chambers nach World Party zugange war. An die Arbeit an „Life Thru A Lens“ kann Robbie sich ansonsten nicht weiter erinnern, weil er komplett dicht war. Eine britisehe TV-Doku zu Weihnachten ’98 zeigte ihn schwankend im Studio. Er soff direkt aus der Flasche und sang zwischendurch. „Ich sang den ersten Vers, schneller Schluck Wein, zweiter Vers, langer Zug an der Zigarette, Refrain, mehr Wein, letzter Vers, Zusammenbruch auf dem Fußboden. Und das war an einem guten Tag.“ Robbie Williams als abschreckendes Vorbild. Direkt nach Abschluß der Aufnahmen begab er sich in die Ausnüchterungszelle der Reha-Klinik. Seine neue Droge: Anerkennung! Im Frühjahr 1998 begannen Robbie und Guy Chambers dann auf lamaica mit den Aufnahmen an „l’ve Been Expecting You“. Im Sommer überzeugte Williams mit einem umjubelten Auftritt in Clastonbury. 1995 war er bei Oasis über die Bühne getaumelt und daraufhin von Take That gefeuert worden. Nur drei lahre später stahl er allen anderen die Show und war der Haupt-Act des Festivals! Seine neue Zielgruppe, sagt Robbie, „ist breiter gefächert als zu Take-That-Zeiten, hat andere Ansichten und vor allem: Penisse!“ Breiter gefächert ist die Zielgruppe auf jeden Fall: Die 80jährige Mrs. Hainstock ließ sich einen „Angel“ auf den Rücken tätowieren und verblüffte Robbie damit Backstage beim V98-Festival in Leeds (außerdem hat sie ein großes Robbie-Poster in ihrem Wohnzimmer hängen).

Im Herbst 1998 erschien die Single „Millennium“ – allein in Großbritannien wurden 600.000 Exemplare vorbestellt. Kommentar Robbie: „Ich habe den Song im Crunde nur geschrieben, damit man ihn nächstes )ahr zwischen ,1999′ und .Disco 2000′ – spielen wird.“ Die Single ging auf eins, und Robbie flog nach Sri Lanka. Dort warb er im Dienste der UNICEF für Impfungen gegen Kinderlähmung. „Es ist ja ganz fein, in schönen Hotels zu wohnen und jede Menge Platten zu verkaufen“, kommentiert er cool, „aber es gibt Wichtigeres auf der Welt, und ich wollte halt mal was Gutes tun.“ Außerdem engagiert Robbie sich bei Greenpeace für den Schutz der Meere.

Doch zurück zur Musik: „I’ve Been Expecting You“ kam in coolem Mattschwarz und besetzte Platz eins der Charts; im deutschen Fernsehen rief VIVA gar einen Robbie-Williams-Tag aus. Der „Dummkopf des lahres“, ein inzwischen überholter Titel, der Robbie von den Lesern des „Melody Maker“ verliehen worden war, zierte plötzlich die Titelseiten der Londoner Gazetten, und seine Haarschnitte beschäftigten Heerscharen von Kolumnisten. „Amerika wirft Bomben ab, und die britischen Tageszeitungen bringen eine Titelgeschichte über mich unglaublich“, wundert Robbie sich noch immer (und völlig zu Recht). Fazit der „Melody-Maker“-Redaktion im Dezember 1998: „It waslheyearof the Robster!“ Das war es zweifelsohne, und 1999 werden wir Robbies markantes Gesicht wohl noch öfter sehen und seine nicht ganz so markante Stimme sicher noch öfter hören. „In England bin ich nur noch .Robbie‘, in Europa bin ich ,Robbie von Take That‘, und in Amerika kennt mich kaum jemand – ich habe noch viel vor“, gibt Williams zu Protokoll. Und auch zum aktuellen Album gibt es was zu sagen, wenn auch nicht von Robbie selbst: „Wir haben mehr auf die Beats geachtet“, sagt Produzent Guy Chambers. „Wir wollten grooviger und tanzbarer werden.“ Mehr ist dazu – bei aller Liebe – auch kaum zu bemerken.

Ist Robbie Williams also nur ein Marketing-Gag? Nein. Er ist echt. Er ist ein Großmaul, er ist ein Spinner, er ist ein I leid. Und er ist zum zweitenmal auf dem Weg nach ganz oben. Und selbst wenn man weder ihn noch seine Musik mag (und dafür gibt es Gründe genug) – seinen Mut, seine Zähigkeit und seine Power muß man bewundem. Lind er nimmt sich nicht so schrecklich ernst wie viele andere „Künstler“. Einem Reporter machte er weiß, „daß ich einen Supermarkt auf den Shetland-Inseln eröffne, weil die Fischer dort gern mehr Obst essen würden“. Lind auf die immerwährende Frage, ob er nicht vielleicht doch schwul sei, entgegnet er lachend: „Ich bin nicht nur schwul, ich habe außerdem die ganze letzte Nacht Schafe gefickt!“ Das hat Klasse! Robbie Williams hat das geschafft, was sich im Grunde jeder wünscht: Er hat seine Schwächen – Aufmüpfigkeit und Draufgängertum – zu seinen Stärken gemacht.