Rio Reiser


Der 'König von Deutschland' ist tot: Am 20. August starb Rio Reiser in seinem Haus im nordfriesischen Fresenhagen. ME/Sounds-Autor Peter Felkel würdigt den früheren Sänger von Ton Steine Scherben als revolutionären Geist und unpeinlichen Deutsch-Rocker.

Klein, zerbrechlich, fast ein bißchen verloren steht er ganz vorne am Rand der riesigen Bühne. Im Hintergrund diskutiert die geballte Deutschrock-Prominenz über die Playlist für den All-Star-Zugabenteil. Rio Reiser hat zum Quatschen keine Lust. „Ich spiele jetzt mein Lieblingslied“, knurrt er in die Nacht hinaus, und zigtausende spitzen die Ohren. Barfuß schlendert er zum Flügel, setzt sich, blickt hoch zu den Sternen. Ein kurzes Klavierintro, dann krächzt er die ersten Zeilen: „Somewhere over the rainbow, way up high, there’s a land that I’ve heard of once in a lullaby“. Das Publikum hält den Atem an, genießt die Schönheit des Augenblicks. Der letzte Akkord verklingt. Sekundenlang herrscht Stille, ehe – nein, nicht Jubel —- sondern bewegter, nicht enden wollender Beifall einsetzt.

Rio Reiser ist tot. Am 20. August erlag er in seinem Haus im nordfriesischen Fresenhagen einem Herz-Kreislaufversagen und inneren Blutungen. „Er war ein revolutionärer und ein großer Geist, der nie in irgendwelche Schubladen gepaßt hat“, sagt Manager und Freund George Glueck. In der Tat: Sich vor 100.000 Zuschauern bei einem Festival, mit dem vor einem Jahrzehnt der Protest gegen die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf kulminierte, nicht in die wohlige „We shall overcome“-Wohngemeinschaft einzureihen, sondern Judy Garlands Lied über Kinderträume zu singen, diese kleine Geste sagt eine ganze Menge über Rio Reiser. Dabei war er politischen Parolen nie abhold. Als Ralph Moebius am 9. Januar 1950 in Berlin geboren, versuchte er sich als 17jähriger in einer Theater-Kommune, von der sich 1970 die Rockband Ton Steine Scherben abspaltete – mit ihm als Sänger. Die Scherben hatten die richtigen Fragen (‚Warum geht es mir so dreckig?‘), die richtigen Forderungen (‚Keine Macht für niemand!‘, ‚Macht kaputt, was euch kaputtmacht!‘) und das richtige Quentchen Hoffnung (‚Wenn die Nacht am tiefsten‘), lieferten den Soundtrack für Hausbesetzungen und andere Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt und revolutionierten quasi im Vorbeigehen die bundesrepublikanische Rockmusik. Doch die fortwährende Alibi-Anarchie ihrer Gefolgschaft ging Reiser und Co. zunehmend auf die Nerven. „Man hat uns als eine Art politische Musicbox benutzt“, klagte Rio einmal. Ein anderes Mal wurde er noch deutlicher: „Mir ist auf den Geist gegangen, daß uns dieses Polit-Image zauberland ist abgebrannt aufgedrängt wurde. Nach Konzerten von uns fühlte sich das Publikum praktisch dazu verpflichtet, ein Haus zu besetzen.“ Die Konsequenz: Schluß mit dem Politrock, raus aufs Land. Fluchtpunkt Fresenhagen. Jetzt sangen sie nicht mehr „ich will nicht werden, was mein Alter ist“, sondern „laß uns ein Wunder sein“. Kleines Glück statt klassenkämpferischem Geist. Die gekränkte Gemeinde zeterte über den vermeintlichen Verrat und überhörte, daß Rio längst woanders war. Mit feiner Ironie rief er sich 1985 auf seinem ersten Soloalbum zum ‚König von Deutschland‘ aus und stürmte die Charts. Er sang vom ‚Junimond‘, von Liebe und Fernweh. Doch bei aller lyrischen Kraft: Genausowenig wie Rio als Politrocker der 70er die Barrikaden gestürmt hatte, genausowenig flüchtete er als Poet der 80er in den Elfenbeinturm. „Ich habe nie aufgehört zu kämpfen. Es ist bloß eine Frage, wo und an welcher Front man kämpft.“ 1988 übte der bekennende Schwule Kritik am Feldzug von Peter Gauweiler, damals Staatssekretär im Bayerischen Innenministerium, gegen AIDS-Kranke und -infizierte. Er wolle den Freistaat vorerst nicht mehr betreten, kündigte Rio an. Ein ähnlich rührender Versuch, der Kälte der Welt zu begegnen, wie sein Eintritt in die PDS im November 1990, weil deren Mitglieder „so’n bißchen Outlaws sind“. So spricht einer, der allen Lobpreisungen von Kollegen, Kritikern und Publikum zum Trotz sein eigenes Außenseiterdasein längst akzeptiert hat. Rio Reiser engagierte sich bei Benefizkonzerten gegen Ausländerhaß und Rassismus, arbeitete als Schauspieler zwischen Theater und ‚Tatort‘, schrieb seine Autobiographie (‚König von Deutschland‘, Verlag KiWi) und Theaterstücke und veröffentlichte Album um Album. Und: „Ab September wollte er seine neue Platte produzieren“, so George Glueck. Die Songs waren bereits geschrieben, das Studio gebucht, der Termin für den Beginn der Aufnahmen festgelegt: Freitag, der 13. September. Die neuen Lieder bleiben ungespielt, die neuen Gedanken ungesungen. Was geht einem da durch den Kopf? „Ich wünschte mir, daß er auf uns runtersieht und sich kaputtlacht“, sagt George Glueck. Eine tröstliche Vorstellung. Rio Reiser ist so lange nicht gestorben, solange jemand seine Musik hört. Somewhere over the rainbow…