Rhythmus statt Riff


Rock ist tot, behauptet Smashing Pumpkins-Kopf Billy Corgan – und liegt damit nicht mal falsch. Doch nun verpassen Bands wie Prodigy und Underworld dem Genre die längst überfällige Frischzellenkur.

ein wilder tänzer schlägt sich für den rock’n’roll „“^Tj „Dieser Mann gehört dringend ^^1 in medizinische Behandlung“, empörte sich ein entsetzer Zuschauer beim englischen Fernsehsender BBC, nachdem das Video zu der Prodigy-Nummer „Firestarter“ über den Bildschirm geflimmert war. Die Rede ist von Keith Flint, dem Eintänzer und Chefchaoten der englischen Elektronic-Punks. Ausgerechnet dieser durchgeknallte Typ steht stellvertretend für die jüngste Entwicklung in der Popmusik – die Fusion von Dance und Rock.

Eine Entwicklung, die sich nicht auf den kleinen Kreis der Opion leader beschränkt, sondern innerhalb kürzester Zeit den Schritt in den Mainstream vollzogen hat. Festmachen läßt sich das Phänomen momentan am ehesten an The Prodigy. Mit den Singles „Firestarter“ und (titel)

Text: Wolfgang Hertel „Breathe“, beide hochoktanige Mischungen aus fräsenden Gitarrenriffs und hektischen Breakbeats, stürmte das Quartett aus Essex weltweit die Charts. Allein in England gingen von „Breathe“ mehr als 700.000 Exemplare über den Ladentisch. Man muß kein Prophet sein, um dem nächsten Prodigy-Album (Arbeitstitel: „Fat Of The Land“) einen überwältigenden Erfolg vorauszusagen. Selbst in Amerika, wo Techno bislang größtenteils im Untergrund stattfand, hat man die Zeichen der Zeit erkannt.

Dessen Einfluß auf die Musikszene dürfte – auch diese Prognose bedarf keiner allzu großen seherischen Fähigkeiten – ähnlich enorm sein, wie einst der von Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“. Klangterrorist Richard James, besser bekannt unter seinem Pseudonym Aphex Twin, glaubt sogar, daß „Prodigy das Potential haben, die größte Band der Welt zu werden.“

Bis es soweit ist, muß sich die Musikwelt allerdings noch gedulden. Ursprünglich für Herbst des vergangenen Jahres angekündigt, wird das dritte Werk von Prodigy-Mastermind Liam Howlett und seinen Getreuen nun frühestens Mitte Juni erscheinen. Nach dem überwältigenden Erfolg von „Firestarter“ und „Breathe“ ist man derzeit noch damit beschäftigt, sämtliche Tracks des Nachfolgers von „Music For The Jilted Generation“ um ein paar zusätzliche Gesangsspuren anzureichern. Im bandeigenen „Earthbound“-Studio geben sich 6ast-Vokalisteri wie Kula Shaker-Sänger Crispian Mills, Rapper Kool Keith alias Doctor Octagon und Republica-Frontfrau Saffron das Mikro in die Hand. Nicht zuletzt deren Unterstützung werden es Liam Howlett, Leeroy Thornhill, Keith Flint und Keeti Palmer zu verdanken haben, wenn man später einmal von ihnen sagen wird, daß sie es waren, die endgültig die Barrieren zwischen Ravern und Rockisten eingerissen haben. Howlett selbst sieht sich nach seiner Rave- und HipHop-Vergangenheit inzwischen mehr auf der Seite des Rock. „Ich kaufe mir keine Dance-Platten mehr, weil aus diesem Bereich in letzter Zeit nichts aufregend Neues erschienen ist“, erklärt der 26jährige Horror-Fan. Und stellt klipp und klar fest: „Inzwischen lasse ich mich hauptsächlich von der Rockmusik inspirieren. Typische Technotöne finde ich langweilig.“ So ganz auf die Rock-Schiene will Howlett sich allerdings auch nicht schieben lassen: „Wir sind doch deswegen keine Rockband, weil wir Gitarren in unsere Musik einbauen. Viel eher schon sehen wir uns als Dance-Truppe mit Rock-Attitüde.“ In einem Punkt ist Howlett sich aber ganz sicher: „Im Grunde paßt unsere Musik mit ihren Elementen aus Punk und Dance in überhaupt keine Kategorie. Wobei ihr die Bezeichnung ‚Electronic Punk‘ wahrscheinlich noch am ehesten gerecht wird – auch wenn sie verdammt übel klingt.“ Und dann sagt Howlett das, was vielen Rock-Traditionalisten die Zornesröte ins Gesicht treiben dürfte, letztendlich aber nicht mehr zu bestreiten ist: „Wir machen eben die Rockmusik der 90er Jahre.“

Ahnliches läßt sich über die Chemical Brothers sagen. Tom Rowlands und Ed Simons, zwei Mittzwanziger aus London, arbeiteten schon für ihr Debüt „Exit Planet Dust“ mit so unterschiedlichen Musikern wie dem Raverocker Tim Burgess, seines Zeichens Sänger der Charlatans, und der Folksängerin Beth Orton zusammen.

Der Rhythmus übernimmt die Rolle des Riffs. „Wir führen Elemente zusammen, die eigentlich nicht zusammengehören und erschaffen so etwas völlig Neues“, schwärmt Tom Rowlands. Allerdings geschieht das bei den chemischen Brüdern auf eine wesentlich subtilere Art als bei den Kollegen von The Prodigy. Rock in seiner klassischen Form taucht einzig als Idee auf, läßt sich jedoch nur noch selten an „greifbaren“ Elementen wie Gitarren(samples) festmachen. Statt dessen vermitteln Lärmkaskaden aus ultraharten Beats, metallischen Soundscapes und abstrakten Klangsplittern den Gedanken, der hinter „echter“ Rockmusik zu stehen hat: Rebellion, Aufbegehren, Chaos. Rock’n’Roll eben. Wobei Rowlands sich und seine Musik nicht in die Nähe des Rock rücken möchte: „Viele Leute sind immer noch auf dieses Rock-Ding festgelegt. Wir wollen sie auch nicht umpolen. Aber den Sound, den wir machen, kann man einfach nicht kategorisieren. Er ist schlichtweg unfaßbar. Ich glaube sogar, daß unsere Platten das Aufregendste sind, was die Musikszene momentan zu bieten hat.“ Darüber kann man nun natürlich geteilter Meinung sein. Die Entwicklung hin zum Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen Dancefloor und Rockbühne aber läßt sich nicht mehr wegdiskutieren.

Auch Underworld trugen ihren Teil dazu bei, daß im vergangenen Jahr erstmals Rockhörer im großen Stil sich Technotönen gegenüber öffneten. Ihre Single „Born Slippy“ erreichte – nicht zuletzt über den Soundtrack zu dem englischen Kultstreifen „Trainspotting“ – eine völlig neue Käuferschicht. In der Folge schaffte auch das dazugehörige Album „Second Toughest In The Infants“ den Weg in jene Pattensammlungen, die bislang eine technofreie Zone bildeten. Doch wollen Karl Hyde und Darren Emerson, noch konsequenter als die Chemical Brothers, mit Rockmusik, wie man sie kennt, partout nichts am Hut haben. „Es geht nicht bloß darum, Gesang und Gitarren in die Dance-Musik zu bringen. Vielmehr möchten wir uns von traditionellen Songstrukturen völlig verabschieden“, erklärt Hyde.

Anders seine Kollegen von Apollo 440. Das Trio aus dem Londoner Stadtteil Camden fusioniert auf seinem aktuellen Album „Electro Glide In Blue“ ohne mit der Wimper zu zucken Breakbeats, Ragga-Elemente und Gitarrenriffs.

Daß besagtes Riff aus Van Halens „Ain’t Talking ‚Bout Love“ stammt, spricht mit Blick auf die Lebensgemeinschaft von Rock und Dance wahre Bände. „Für uns liegt in dieser Verbindung die Zukunft“, meint Produzent Howard Gray denn auch völlig begeistert. Ähnlich euphorisch reagiert das Publikum. Die „Electro Glide“ schoß bereits in der ersten Woche nach Veröffentlichung in die Charts, und der Titelsong wird von SATi zur Untermalung der Fußball-Show „ran“ eingesetzt.

Techno-Puristen ebenso wie die traditionelle Rock-Gemeinde blicken einer dauerhaften Liaison aus Dance-Lust und Rock’n’Roll-Radau mit Schrecken entgegen. Die einen rümpfen die Nase, weil ihnen das Techno-Bumbum schon immer auf die Nerven ging, die anderen können sich nicht damit anfreunden, daß neben DJ und Plattenspieler nun auch Marshall-Türme zur Grundausstattung der Großstadtdisco gehören sollen. Doch vor allem die Rockriege wird sich damit abfinden müssen, daß die Zukunft ihrer Musik auf dem Dancefloor stattfindet. So coverten die Smashing Pumpkins auf ihrer letzten Tournee den Prodigy-Hit „Firestarter“, und Billy Corgan steuerte zum Soundtrack für den neuen David Lynch-Streifen „Lost Highway“ ein weitgehend am Computer konstruiertes Stück bei. Auch das neue Album der Pumpkins wird dem Vernehmen nach mit den bisherigen Arbeiten der Band nur noch bedingt zu vergleichen sein. Denn statt die Gitarre klirren zu lassen, experimentieren Corgan und sein Clan lieber mit elektronischen Klängen. Man darf also gespannt sein.

Allerdings trägt das Bemühen der Rock-Fraktion, sich souverän auf dem Tanzboden zu bewegen, nicht immer die saftigsten Früchte. So versteckte sich zum Beispiel Eric Clapton bei seinem mißglückten Ausflug in Ambient-Gefilde (zusammen mit Climie Fischer bei dem Projekt T.D.F.) zu Recht hinter dem Pseudonym „x-sample“. Auch U2 konnten auf „Pop“ die großspurigen Versprechungen, eine weitgehend

von Drum ‚N Bass-Elementen beherrschte Platte vorzulegen, nur im Ansatz einlösen. Es reicht eben nicht, Mixmeister wie Howie B hinters Mischpult zu setzten, man muß ihnen auch genügend Freiraum einräumen.

Mit letzteren geht er im Juni auch auf Open Air-Tour. U2 übrigens hätten Prodigy gerne als Support für ihre Stadion-Gigs verpflichtet, handelten sich aber eine Absage ein. Bowie hingegen will sich nicht nur mit Prodigy die Bühne teilen. „Wir möchten in diesem Sommer nicht nur normale Konzerte spielen, sondern auch auf einigen Raves auftreten“, verkündete er unlängst – auch wenn Bowie genau weiß, daß „Earthling kein reines Jungle-Album ist“. Er betont allerdings, „daß Dance-Musik auf vielen Ebenen funktionieren kann. Ich mag vor allem die Hardcore-Sachen mit ihren hypnotischen, trancehaften Qualitäten. Diese Beats möchte ich in die Rockmusik überführen.“ Am Ende aber, und daran läßt Bowie keinen Zweifel aufkommen, geht es ihm nicht um Dance-, sondern nach wie vor um Rockmusik“ – genauso wie den guten alten Stones. Doch selbst Jagger und Richards, die Ikonen handgemachter Rockmusik, verschließen sich den aktuellen Strömungen nicht. Für ihr nächstes Album, das noch in diesem Jahr erscheinen soll, kontaktierten sie bereits im Vorfeld die Chemical wie auch die Dust Brothers (die auch schon bei Becks „O-De-Lay“ verantwortlich gezeichnet hatten). Dust Brother Mike Simpson erzählt erstaunt: „Das erste Demo, das uns Mick vorspielte, klang schon beinahe so, als ob wir es produziert hätten.“ Das mag auf den ersten Blick verwundem. Auf der anderen Seite aber weiß man, daß die Stones seit „Steel Wheels“ ihre Maxis verstärkt um Dance-Remixes anreichern. Auch die retro-orientierte Fangemeinde von Keef und Co. darf sich also für die Zukunft noch auf einiges gefaßt machen. Puristen aus dem Computerlager hingegen befürchten, daß der klassische Technoton durch die Verbindung mit Rockelementen verwässert wird. Zumal sich selbst Techno-Acts wie 808 State oder Orbital bei Live-Auftritten „reaktionär“ rockender Verhaltenweisen bedienen. Standen bei mitternächtlichen Raves bis vor kurzem noch Musik und Tanz im Vordergrund, verlassen immer mehr Acts die selbstgewählte Anonymität und lassen sich auf der Bühne wie Rockstars feiern. Dieser Annäherung an bekannte Verhaltensmuster zum Trotz wird sich der überzeugte Rockfan mit der größtenteils gesichtslosen Techno-Szene von Stars wie Sven Väth oder Jeff Mills einmal ausdrücklich abgesehen – auch weiterhin schwer tun.

Auch das ist eines der Erfolgsgeheimnisse von The Prodigy: Mit Keith Flint haben sich die Engländer eine eigene Identität geschaffen – die Grimasse zum Song. Den eigentlichen Macher von The Prodigy, Liam Howlett, würde man hingegen nicht mal erkennen, wenn er einem in der U-Bahn gegenübersäße. Bis die „Bravo“ das erste Poster von den Chemical Brothers beilegt, werden denn auch noch ein paar Tage vergehen. Wohl auch deshalb, weil die neue Verbindung von Rock und Dance für viele noch äußerst gewöhnungsbedürfig ist. Oder, wie Chemiker Ed Simons meint, „weil unsere Musik ganz einfach roh und hart ist“.