Vic Chesnutt – North Star Deserter

I Als in einem schönen Sommer vor genau zwölf Jahren Vic Chesnutt sein auch schon viertes Album veröffentlichte, da klebte auf dem grünen Cover ein roter Sticker: „Platte des Monats im Musikexpress“, und der klebte dort völlig zu Recht. Der Songwriter aus Athens im US-Bundesstaat Georgia war damals knapp 30 Jahre alt und mit Platten wie Little und West Of Rome bereits abonniert auf seltsam unverbrauchte Folkskizzen, denen, so spröde sie heute noch sind, eine verlässlich wuchtige melodische Veführungskunst innewohnte. Nie zuvor und nie danach klang Chesnutt so griffig, fast poppig wie auf Is The Actor Happy?, einer Platte, die man seinen Durchbruch nennen könnte. Später bezeichnete er das Album als seine „kindischste Platte“. trotz ihrer seltsam bösen Texten („He went searchin for that big Buddha in a raincoat/But found a wife half the size of he / in Thailand“), wobei „böse“ kein Kriterium für die Lyrik dieses Musikers darstellt, der seit einem Autounfall 1983 an den Rollstuhl gefesselt ist. Auch North Star Deserter ist wieder ein Grinsen im freien Fall, mit Texten, die mal tonnenschwer sind, mal federleicht, aber eigentlich immer tonnenschwer, sarkastisch, sardonisch, zynisch, lakonisch, larmoyant, die ganze verdammte Palette. Wozu Chesnutt, der notorisch Halbvergessene, durchaus allen Grund hat: Vom bestaunten Rollstuhlfahrer, der kaum seine Gitarre halten kann mit seinen kranken Händen und doch Unglaubliches herbeizaubert, hat er es nun zum „banjo-on-his-knee-godfather of-freak-folk“ („Stylus Magazine“) geschafft, der seine Musik nicht mehr im „southern gotic“-Ambiente, sondern in Montreal aufnimmt. Nachdem er zuvor schon mit Michael Stipe. Van Dyke Parks. Will Johnson, Bill Frisell, Widespread Panic und Lambchop musizierte, haben ihm auf North Star Deserter befreundete Musiker von Fugazi (die Gitarren!) und Godspeed! You Black Emperor! (die Arrangements) unter die Arme gegriffen. Das Ergebnis ist eine echte, aufregende Indie-Perle-statt ermüdender Fingerübungen in Sachen „Americana“, wie noch auf Silver Lake und Ghetto Beils. Kostbarkeiten wie „Splendid“ haben wieder den harmonischen Funken früherer Stücke, Rocker wie „Debriefing“ kommen diesmal so, wie sie gedacht waren: eckig und hart. Versucht hat er es schon öfter, aber erst jetzt dürfte es Chesnutt wirklich gelungen sein, das herrlich zerdehnte Momentum seiner Live-Auftritteeinzufangen, bei denen er selbst raschere Stücke in ab-so-lu-ter Superzeitlupe inszenierte. Hier trifft er erstmals auf Musiker, die seine humoristisch-apokalyptischen Visionen auch klanglich umzusetzen verstehen. Ein echter Gewinn, für uns. für ihn-und den so genannten Freak-Folk, der einen solchen Fürsten verdient hat.

www.vicchesnutt.com