Vic Chesnutt – Littte Drunk West Of Rome Is The Actor Happy?
Da liegen also diese vier ersten Platten, nett editiert, mit unveröffentlichtem Material, und da ist dieses leichte Ziehen im Bauch: Ist es wirklich schon 16 Jahre her? 16 Jahre, dass Michael Stipe in einem kleinen Club seiner Heimatstadt Athens in Georgia dem Songwriter Vic Chesnutt begegnete? Muss wohl so sein, denn der R.E.M.-Sänger erinnert sich noch sehr genau an die Aufnahmen zu little. Im Oktober 1988 hatte er den linkischen Rollstuhlfahrer mit den partiell gelähmten Händen endlich dazu überreden können, aus seinem mäandernden Repertoire wenigstens Juwelen wie „Rabbit Box“ oder „Speed Racer“ auf eine Platte zu bannen. Zwei Tonspuren brauchte Chesnutt, eine für die Stimme, eine für die Gitarre, während Michael Stipe Pizza bestetlte und im Hintergund auf einem Spielzeugklavier herumklimperte. Derweil prügelte Chesnutt ungehörte Melodien aus seiner akustischen Gitarre, zu denen er kalte Konsonanten ausspuckte und warme Vokale manchmal über vier Takte hinweg auskostete: „They found her in her skates /She was the coldest cadaver in the State / Now look at the take/Not even the ducks are risiking it“. Für drunk brauchte Vic Chesnutt schon skandalös lange 48 Stunden, war aber auch, wie alle Beteiligten bestätigen, fortwährend betrunken-wie übrigens auch alle Beteiligten. Nur schien ihn dieser Umstand keineswegs zu beeinträchtigen, sondern beförderte noch sein Genie. Zudem hatte Chesnutt Gefallen an E-Gitarren gefunden und gemerkt, dass Bass und Schlagzeug seine Ausdrucksmöglichkeiten enorm erweiterten. Das Ergebnis ist eine, naja. Vollgasfahrt über eine Schlaglochpiste, mit einem krächzenden, wimmernden, schnurrenden, bellenden und jaulenden Irren am Steuer, mit einer Whiskeyflasche in der Hand und einem selbst gebastelten Bischofshut auf dem Kopf. Den trug er auch noch, als sich Michael Stipe wieder an die Regler setzte. Stiller, fast schmerzhaft auf Zeitlupentempo gedrosselt, aber auch meilenweit tiefer als drunk ist das abgründige Meisterwerk west of rome eine Übung in Intimität und Intensität, Exzess und Exzellenz, überquellend vor berückenden Melodien und Metaphern. Und wenn der Schmerz so groß wird wie Robert Mitchum, rät er, dann muss man „Lucinda Williams“ hören. Und träge wie unter tropischer Sonne singt er in seiner vergifteten Ode auf das Rentnerparadies Florida: “ I respect a man who goes to where he wants to be /Even he wants to be dead“. 1995 dann erscheint IS THE ACTOR HAPPY? damals Platte des Monats im musikexpress. Als „meine Kinderplatte“ diskreditierte Chesnutt zwar später selbst die verblüffenden Harmonien, die kompakte Wucht seiner Scary Little Skiffle Band mit Gattin Tina am Bass, die erhaben dahinfedernden Arrangements und stimmigen Samples – aber zugänglicher als hier war er nie und würde er nie wieder sein. Was danach kam? Wer etwas von Songs versteht, von Madonna bis Sparklehorse, covert seine Stücke, Chesnutt nimmt Filmrollen an („Sling Blade“] und Platten mit Widespread Panic und Lambchop auf, wird ein glücklicher Mann, mag sein. Aber die Essenz dieses Ausnahmekünstlers findet sich genau hier, auf diesen ersten vier Platten. Führe uns in Versuchung und erzähle uns von dem Bösen.
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