Ultravox!

Leute, es bahnt sich etwas an. Noch gehört Phantasie dazu, die vereinzelten Anzeichen zu systematisieren, die in der Popkultur auf eine Aufbruchstimmung von seltener Vitalität hindeuten. Erst nach und nach fügen sich die losen Bausteine eines Puzzles zusammen, das auf einen massiven musikalischen Vorstoß hindeutet. Erinnern wir uns: Im April-Heft hatte den ME-Chefredakteur voll eine Schallplattenbreitseite erwischt, die die Band Television aus den Kloaken der Metropolis New York abgefeuert hatte. Zur gleichen Zeit stemmten fünf andere junge Musiker die Kanaldeckel des britischen Untergrund hoch, um dem rockenden Insel-Establishment einen nicht minder gezielten Hieb in die satte Plastikfratze zu versetzen. Dieser „Ultravox!“-Schlag hat mich so getroffen wie die TV-Attacke meinen Kollegen. Das Entscheidende daran: Amerikas Television und Englands Ultravox! sind (wie auch schon die Doctors Of Madness) verschiedene Ausgeburten ein und desselben internationalen Zeitgeistes. Sie sind apokalyptische Reiter einer subkulturellen Erneuerung, sind die ersten Rockrebellen der dritten Generation.

Die Wurzeln der aus fauligem Grund keimenden Sumpfblütenpracht reichen in die Ära der Velvet Underground, der Fugs, Stooges und McFive. Aber auch der mangels neuer Trends von der sensationslüsternen Musikkritik zertrampelte Punk-Rock erhält vor unserem aktuellen Hintergrund eine klar umrissene Funktion. Nicht nur, weil in seinem Chaos kreative Leute wie Patti Smith geboren wurden, war der Punk mehr als eine abgefeimte Modemasche cleverer Konzernherren. Der Verwüstungsangriff seiner blindwütigen Pöbelhaufen auf jegliche eingeschliffene Hörkultur war notwendige Vorarbeit für jene Musikergeneration, die nun aus Trümmern neue Schönheit schaffen kann.

Ultravox! gehört dazu. Fünf völlig unverschlissene Künstler, deren intellektuelles Zentrum (ähnlich Tom Verlaine bei Television) der Sänger John Foxx ist. Ableger der britischen Collegeszene, stehen sie unleugbar auch in der Roxy-Music-Tradition. Doch wo Roxy’s stilistische Entwicklung in Koketterie mit der Dekadenz erstickte, ist Ultravox! die leibliche Verkörperung einer faulenden Welt. Ihre Songs sind die musikgewordenen Albträume einer am Abgrund der Überzivilisation taumelnden Gesellschaft, deren Mitglieder vom namenlosen Grauen vor einer Zukunft gezeichnet sind, die nur schrecklich sein kann. Umgesetzt werden solche Traumgebilde in bizarrer Einfachheit. Für das Debütalbum verarbeitete Ultravox! einen Sturzbach musikalischer Eindrücke zu einem Konzentrat, in dem sogar Beethovens „Schöner Götterfunke“ neue Qualität gewinnt. Zwei Grundelemente lassen sich herausdestillieren: geradezu mörderische Ohrwürmer aus satten Harmonien und knalligen Rhythmen, die durch Dissonanzen und Verfremdungseffekte, immer wieder so weit abgeschliffen werden, daß sie keine eigenständige ästhetische Qualität gewinnen. Form und Inhalt bleiben so aufeinander bezogen – ein Science-Fiction-Zerrspiegel gesellschaftlicher Realität, dessen Konsequenz Schaudern macht: „I Want To Be A Machine , singen die Kinder des Automatenzeitalters.

Die etablierten Horror-Rocker vom Kiss-Schlage deklassiert der Ultravox!-Erstling endgültig zu dem, was sie sind: alberne Hofnarren der Szene. Und auch für all die anderen .Rock-Dinosaurier der siebziger Jahre gilt die Warnung im Programmsong von Ultravox!: „There Is A Dangeros Rhythm In The Air!“ Alt-Avangardist Brian Eno hat das rechtzeitig gemerkt. Er produzierte den Geniestreich.