Tyler, The Creator
CHROMAKOPIA
Columbia Records / Sony Music Entertainment (VÖ: 28.10.)
Mit seinem siebten Studioalbum findet der Rapper aus Los Angeles noch immer nicht nach Hause. Musikalisch funktioniert das aber bestens.
Nach zwei aufeinanderfolgenden Grammy-Awards für das beste Rap-Album des Jahres stellt sich bei Tyler, The Creator die logische Frage, was als Nächstes kommt. Die Antwort lautet mit Ausrufezeichen CHROMAKOPIA.
Erst einmal bleibt darauf alles, wie gehabt. Und das heißt nichts Schlechtes. Denn vieles von dem, was IGOR (2019) und CALL ME IF YOU GET LOST (2021) so spannend und facettenreich gemacht hat, findet sich auch hier wieder. Vom Sound her manchmal etwas blasser, aber inhaltlich mindestens genauso tiefgehend, folgen wir dem Allround-Künstler erneut auf seinem Weg der Selbstfindung – und es wird auch auf der siebten Platte überhaupt nicht langweilig.
Inneres Licht bringt Farben hervor
Bereits der Titel (ein Neologismus, den man mit „Farbabbild“ übersetzen könnte) deutet an, dass Tyler Gregory Okonma weiterhin auf der Suche ist nach einem erfüllten Leben, das nicht wie im Video zur Single „Noid“ in Sepiafarben daherkommt. Sein neuer alter Ego, ein Militärgeneral mit ausdrucksloser schwarzer Maske und zu Micky-Maus-Ohren gestylten Haaren, repräsentiert möglicherweise die Disziplin, mit der er seine wahre Identität zurückhalten muss(te). Doch „das innere Licht“, das der kanadische Sänger Daniel Caesar in „St. Chroma“ besingt, lässt sich nun einmal nicht einsperren.
Anknüpfung an bestehende Thematiken
Was unter der Oberfläche des 33-Jährigen scheint, kennt man von anderen Alben zu großen Teilen bereits, allerdings spitzen sich die inneren Konflikte und die Auseinandersetzung mit den eigenen Bedürfnissen nun stärker zu. Noch expliziter offenbart er die eigene Bisexualität („Sticky“), sein durch den Ruhm entstandenes paranoides Verhalten („Noid“) oder auch das Verhältnis zu seinem Vater („Like Him“), den er – wie schon auf „Answer“ in seinem Frühwerk WOLF (2013) mit größerer Wut abgehandelt – nie richtig kennenlernen durfte.
Hinzu kommen zwei neue, oder mindestens konkreter gewordene Themen: den Hang zur Polyamorie in „Darling, I“ und die Beschäftigung mit möglichem Nachwuchs in „Hey Jane“ und „Tomorrow“. Kinder möchte Tyler eigentlich nicht („Ich mag keine Käfige / ich würde lieber überschwemmt werden“), doch der Druck seines sozialen Umfelds, allen voran seiner Mutter, zwingt ihn immer wieder zum Nachdenken. Die wiederum nimmt – wie schon DJ Drama auf CMIYGT – die Rolle als Moderatorin ein, die in nahezu jedem Intro und Outro der insgesamt 14 Songs einigermaßen vulgäre Lebensweisheiten vorbringt und damit ihren Sohn mal ermutigt, mal tröstet, mal belehrt.
Tyler, The Creators Weg nach Hause
All das bettet Produzent und Arrangeur Okonma wieder einmal in seine fast schon obligatorischen Horrorcore-Beats mit sinistren Synthies, dröhnenden 808s oder auch schrägen Samples von Kinderliedern ein, die urplötzlich in sanfte Moll-Melodien mit souligem oder gar gospeligem Sing-Sang übergehen können. Diese ambivalenten Klänge zu vereinen, macht seinen Stil noch immer besonders und drückt perfekt innere Zerrissenheit aus. In „Like Him“ verlässt er sich allerdings ein bisschen zu sehr auf seine Falsettstimme und singt mehr schief als kräftig zu kitschigen Klavierakkorden; der Gesang in der Hook von „Judge Judy“ (eine Anspielung auf die Reality-Gerichtssendung mit der Richterin Judith Sheindlin) klingt schon eingängiger.
Tyler, The Creator mag, wie er in „Thought I Was Dead“ feststellt, kein disruptiver Newcomer mehr sein, aber er ist mit der Erforschung seiner Identität noch nicht am Ende. Und weil dieser komplizierte Prozess eigentlich schon seit dem Beginn seiner Karriere läuft, hört sich CHROMAKOPIA insgesamt (mit kleineren Abstrichen) so gut an wie alles davor. Man kann dem Flower Boy letztendlich nur das wünschen, was er den Hörer:innen im letzten Track mitteilt: Hoffentlich findest du den Weg nach Hause.