Tocotronic
Wie wir leben wollen
Vertigo/UDR/Universal
Es gibt viel zu tun, hören wir es uns an: das zehnte Album im 20. Jahr der Rockgruppe Tocotronic.
Was 1993 als musikalisch noch reichlich wässrige Ursuppe aus Grunge und Punk begann, rundet sich 2013 nun auch schon zum 20-jährigen Jubiläum. Dirk von Lowtzow, attraktiv ergraut, weiß darum und hebt an mit den Worten: „Hey, jetzt bin ich alt“. Es gibt kaum eine andere Gruppe deutscher Zunge, die so lange so kontinuierlich so wichtig gewesen ist. Gründe dafür gibt es viele, und die wenigsten davon dürften musikalischer Natur sein.
Spätestens seit K.O.O.K. (1999) arbeiten Tocotronic an ihrer klangästhetischen Veredelung, den eigenen stilistischen Kompass fest im Blick. Ausfallschritte in benachbarte Genres blieben stets zaghaft und verlassen auch auf WIE WIR LEBEN WOLLEN kaum einmal den Weg der Gediegenheit. Angeblich wurde zur Vorbereitung viel Beach Boys gehört und Beatles, aber diese Einflüsse münden vor allem in produktionstechnische Entscheidungen wie etwa der Mono-Abmischung des Schlagzeugs: Analog ist besser. Die Sessions mit dem Produzenten Moses Schneider darf man sich getrost als Re-Enactment der Rolling Stones vorstellen, wie sie einst „Sympathy For The Devil“ aufnahmen. Es herrschen Hall, gemächliches Tempo und eine akustische Wischtechnik, die alle Ecken und Kanten unter einem flutendem Wohlklang verschwinden lässt, der seine Betriebsgeheimnisse (Glockenspiel! Kastagnetten! Theremin! Chöre!) nur auf einer sehr guten Stereoanlage preisgibt. Das Ergebnis ist eine warme Wucht.
Manufaktum für die Ohren also. Dabei bezieht diese Musik ihre eigentümliche Spannung aus der paradoxen Verschränkung von konservativem Klangbild und progressiven Texten: „Ich habe mehr als tausend Seiten, ich bin ein fließender Roman“, singt Dirk von Lowtzow, und auf einmal ergibt das alles einen Sinn. Wie es überhaupt zunächst weniger musikalische Ideen als immer wieder einzelne Textzeilen sind, die beim Hörer hängen bleiben: „Um mich soll’s nach Erdbeeren riechen“ oder „Sieh mich an, ich bin ein bleicher Mann der tanzt“ oder „Alles detoniert nach innen“ oder „Warte auf mich auf dem Grund des Swimming Pools“ sind funkelnde Sentenzen, die, einmal gehört, gleich auch die Melodie mitliefern. Beide Bereiche, das stets routiniert Gespielte und das manchmal maniriert Gesungene, stützen sich gegenseitig. Dass es inhaltlich diesmal um die ebenfalls miteinander verschränkten Themen Körper und Befreiung geht, darf im metaphorischen Reichtum dieser Texte getrost untergehen. Tocotronic präsentieren sich als stolzes Flaggschiff unter vollen Segeln, die Laderäume prall gefüllt mit spekulativer Poesie, aber auch literarischer Ausbeute von Robert Musil bis Ernst Jünger. Es gibt viel zu tun. Hören wir es uns an.