Tocotronic
GOLDEN YEARS
Epic/Sony (14.2.)
Die Indie-Rock-Institution setzt der drohenden Finsternis seltsam steifen Humor und kämpferischen Trotz entgegen.

1975 versprach David Bowie seiner Geliebten, dass die „Golden Years“ noch auf sie beide warten würden. Exakt ein halbes Jahrhundert später fährt Dirk von Lotzow im Titelsong von GOLDEN YEARS nach Recklinghausen, nimmt im Motel Schlaftabletten und sagt uns, dass man dankbar sein darf, „wenn man den Leuten noch begegnet, nicht nur als Klick auf Spotify“.
Seltsam ist, dass der scheinbar optimistische Bowie-Song grimmig groovt, während Tocotronic auf „Golden Years“, der pessimistischen Sicht zum Trotz, eine nahezu fröhliche Patina legen. Diese Diskrepanz zieht sich durch das ganze Album, das ihr 14. ist. Fast euphorisch fordern sie „Bleib am Leben“, die Gitarren bratzen befreit und der Refrain lädt zum enthemmten Mitgrölen ein, aber der einzige gute Grund zu leben ist: „Es gibt noch was zu erledigen.“ Euphorisch turnen aufgekratzte Bläser durch „Vergiss die Finsternis“, nur damit die Dunkelheit schlussendlich siegen wird: „Doch wirst du dich vergebens / Von ihr fortbewegen.“
Die Hoffnung, dass uns vielleicht doch noch GOLDEN YEARS bevorstehen, stirbt also zuletzt
Außerdem trifft von Lowtzow sein jüngeres Ich, dem noch die Hamburger Haare ins Schülergesicht hängen („Wie ich mir selbst entkam“ hätte auch ein weiteres Kapitel von DIE UNENDLICHKEIT sein können). Aber nicht nur die Vergangenheit ist nicht so glorreich, wie es schien, vor allem die Gegenwart sieht nicht gut aus: Berlin ist auch nicht mehr das, was es mal war („Bye Bye Berlin“), Depression greift um sich („Niedrig“), und in der Zukunft warten nur der Tod und sogar der jüngste Tag, der „nur einen Wimpernschlag entfernt“ ist („Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal“). Doch: Wir sind hier nicht im Selbstmordkommando, Dirk!
Es gibt auch seltsam steifen Humor und Schüttelreime („Tanz“ auf „Romanz-e“ auf „Ambulanz“), die ein wenig Erleichterung verschaffen. Und es gibt den Song, der den Kopf musikalisch und inhaltlich nicht hängen lässt. „Denn sie wissen, was sie tun“ ist laut und kämpferisch und hat einen dermaßen überzeugenden Ton-Steine-Scherben-Vibe, dass man drei Minuten und 19 Sekunden doch tatsächlich glauben möchte, dass Küsse helfen gegen die, die „völlig selbstverständlich Fiesheit als Identität“ leben und „immer mehr“ werden. Die Hoffnung, dass uns vielleicht doch noch GOLDEN YEARS bevorstehen, stirbt also zuletzt.
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