Sin Nombre :: Die Vergessenen

Was man nicht mehr vergisst, wenn einen dieser Film wieder in die Freiheit entlässt (und dieser Ausdruck ist mit Bedacht gewählt), ist dieses Gesicht, das verlorenste Gesicht der Filmgeschichte. Es gehört Lil‘ Mago, dem Anführer einer lokalen Clika der Gang Mara Salvatrucha. Er ist nur eine Nebenfigur in SIN NOMBRE, aber sein Gesicht, wie sein Körper mit tätowierten Ganginsignien übersät, lässt einen nicht mehr los. Das fast ausschließlich mit Laien entstandene Regiedebüt des 32-jährigen Amerikaners Cary Fukunaga ist dennoch kein Film über Gangs. Er bezieht lediglich seine Explosivität aus dem Bemühen um realistische Abbildung der Zustände, in denen seine Figuren existieren.

Um die Mara Salvatrucha des Films zu verstehen, kann man Wikipedia bemühen (größte und gefährlichste Gang der Welt, mehr als 100.000 Mitglieder, Abtrünnige werden mit dem Tod bestraft) oder sagen: Wenn die Wilden aus MAD MAX 2 Besitz von COLORS nehmen würden, hätte man eine Vorstellung von der Hölle, der sich die männliche Hauptfigur Casper ausgesetzt sieht. Siehe CITY OF G0D, siehe AMORES PERROS. Und doch ganz anders. In einer Welt, in denen Initiationsriten vorsehen, kleine Jungs erst einmal 13 Sekunden zu vermöbeln und sie dann ihren ersten Mord begehen zu lassen, macht sich Casper des Vergehens schuldig, sich Mara nicht mit Leib und Seele auszusetzen: Seine Liebe zu einem normalen Mädchen wird ihm zum Verhängnis.

Die andere Hölle des Films ist auch nicht besser, die Hölle der Flüchtlinge, die dem sicheren Untergang in ihren Heimatländen auf dem Rücken von Zügen entfliehen, immer in Richtung Norden, el norte, wo die USA zwar längst nicht mehr mit der Aussicht auf Wohlstand locken, aber wenigstens einer gewissen Chance des Überlebens. Zu den Flüchtlingen gehört die 16-jährige Sayra. Auf ihrer dreiwöchigen Wahnsinnsfahrt durch Landschaften, deren Schönheit man gesehen haben muss, lernt sie Casper kennen, ebenfalls auf der Flucht vor der Mara und seinem alten Leben. Da liegt ROMEO & JULIA in der Luft, aber Regisseur Fukunaga ist kein Tor: Für Romanze ist hier kein Platz, allenfalls für kurze Zärtlichkeit, denn dann holt die Wirklichkeit auch die ein, die zu Träumen gewagt haben.

Und es bleibt der Schrecken, der einen nicht mehr loslässt, die fürchterlichste Szene des Jahres: Lil‘ Mago mit seiner Fratze, wie er zu Beginn des Films im Hauptquartier der Mara Hof hält und über Leben oder Tod entscheidet. Mit seinem Baby auf dem Arm.

Kinostart 29. April

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