Serge Gainsbourg :: Histoire De Melody Nelson

Die Erotik des Basslaufs: Pop: Eine umfangreiche Rekapitulation der Intimbeichte des französischen Jahrhundertsongwriters aus der Saison '71.

Jetzt feiern sie alle ihren Vierzigsten. Die sogenannten Rock-Klassiker, die zu Unrecht ignorierten Spitzenwerke, die Folk- und Songwriterplatten aus den Archiven der Goldenen Generation. Das wird uns jetzt noch einige Jahre begleiten, die frühen Siebziger waren eine Zeit der Leistungsexplosionen, sie markierten die späte Ernte der Generation Woodstock auf der einen und die grundlegenden Visionen der Neutöner auf der anderen Seite (Can, Kraftwerk, Roxy Music). Serge Gainsbourg (1928-1991) mag man keiner dieser Richtungen zurechnen. Der Franzose spielte als Sänger, Schauspieler und Autor in einer eigenen Liga, in der er von Anbeginn an Regeln zu brechen und Sicherheiten zu hinterfragen wusste. Was seinem Konzeptalbum Historie de Melody Nelson gut getan hat; das ursprünglich als Rock-Oper bezeichnete Werk wird zum 40. Jahrestag bejubelt und in mehreren Editionen (siehe Kasten) veröffentlicht.

Melody Nelson hat eine Geschichte zu erzählen, und es ist Gainsbourg als Flüsterchansonnier, der mit dieser Geschichte eine Expedition in seine Abgründe beginnt: Ein Mann im Rolls Royce fährt ein junges Mädchen auf dem Fahrrad an. Wenig später befinden sie sich in einem Hotelzimmer, und was sich dort zwischen den beiden abspielt, wird über sieben Songs in literarischen Fantasiebildern und sexuellen Andeutungen erzählt – à la langue de Gainsbourg. Zum Finale des Albums dürfen wir mit dem Autor und Sänger über die Sterblichkeit grübeln: Das Mädchen wird Opfer eines von Anhängern des Cargo-Kultes herbeigeführten Flugzeugabsturzes. Dann lauschen wir der Stimme des Erzählers: „Und ich hoffe auf eine Katastrophe, die dich zurückbringt, Melody.“

Wie weit diese Erzählung in das Leben von Gainsbourg und seiner großen Liebe Jane Birkin reichte, illustriert die 40-minütige Doku von Sébastien Merlet auf der DVD. 1971 hatte Serge Gainsbourg die 40 schon hinter sich gelassen, „er fühlte sich wie ein alter Mann“, bemerkt Arrangeur und Co-Komponist Jean-Claude Vannier im Film, er reproduzierte diese Rolle für Melody Nelson. Mädchen-Fotos aus dem Familienalbum von Jane Birkin standen Pate für die Bilder von Melody Nelson, die Gainsbourg in seinem Kopf generierte. Ihr Kieksen und Stöhnen, das im Track „En Melody“ zu hören ist, hatte er einem Privatdokument entnommen, es handelte sich um das nachträglich manipulierte Kichern Jane Birkins, das von einer alten Audio-Kassette stammte. Jean-Claude Vannier liefert den gedanklichen Überbau dazu: „Menschen lieben sich zwar wie die Idioten, aber sie sollten immer lächeln dabei.“

Das mit 28 Minuten Spielzeit aufreizend knapp bemessene Album war das Ergebnis monatelanger lyrischer Schwerstarbeit Gainsbourgs, stellenweise wurde die Musik zur Inspiration für des Autors Intimbeichte. Jean-Claude Vanniers poetische Streicherarrangements verleihen Gainsbourgs dunklen Introspektionen die passende Raumtiefe, die zurückhaltend gespielten Gitarren produzieren eine Grundspannung. Herbie Flowers mäandernde Bassläufe weit vorn im Mix bilden die Folie, auf der Gainsbourg seine Selbstgespräche aufziehen kann, bis tief in die hinteren Winkel seiner Obsessionen, seiner Zweifel. Der Bass spielt ihm den Ball zurück. Er dudelt: „Du darfst“.

Serge Gainsbourg durfte immer schon, was anderen versagt blieb. Der perfekte Nationalheld für ein Land, das sich die Idee der Resistance in sein Stammbuch geschrieben hat. Gainsbourg fungierte als Widerhaken, der dem System erst den Ausweis der Liberalität verlieh, er provozierte, er war der alkoholisierte Flegel und Ersatz-Rimbaud für eine ganze Nation, er versöhnte in Momenten zarter, philosophischer Betrachtungen – mit der Zigarette vielsagende Rauchzeichen in die Welt malend. Er jubelte France Gall einen Schlagertext mit Blowjob unter und kurvte mit Jane Birkin auf „Je t’aime“ um den G-Punkt der Popmusik. Der Rock-Bohemien gefiel sich in der Rolle des Tabubrechers bisweilen allzu sehr, er widmete Masturbation, Fellatio und inzestuösen Verhältnissen nur mäßig interessante Songs. Als er die Titel „Nazi Rock“ und „SS in Uruguay“ für das Album Rock Around The Bunker einspielte, war ihm die Kontrolle über die Kunst schon entglitten.

Melody Nelson verkaufte sich 1971 in Frankreich nicht sonderlich gut, im Ausland wollte erst gar keiner von diesem französischen Sonderling Notiz nehmen, der sich über den Zeitgeschmack hinweggesetzt hatte. Man muss heute nur das Albumcover anschauen, um zu wissen, dass das die Platte gewesen wäre, die deine Eltern dir immer schon verboten hätten (wenn die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien ihnen nicht zuvorgekommen wäre). Das Cover zeigt Jane Birkin mit nichts als einer Jeans bekleidet, die Kinderpuppe, an die sie sich klammert, verdeckt die Brüste. Eine Lolita in Rock – im frankophilen Remix. Gainsbourg hat nie dementiert, dass seine Begeisterung für Nabokovs gleichnamigem Roman Einfluss auf Melody Nelson hatte.

Bis das sexuell verdächtige Werk des Franzosen auch in Amerika gefeiert werden konnte, mussten Jahrzehnte vergehen. Zum 20. Todestag Gainsbourgs gab Beck Hansen mit dem Hollywood Bowl Orchestra und Gastsängern im vergangenen Herbst eine Tribute-Show in L.A. Ohne die gefährlich sanfte Raspelstimme Gainsbourgs fehlte dem Unternehmen zwar das Herzstück, der untergründige Funk aber, der auch in Lou Reeds Klassiker „Walk On The Wild Side“ zu hören ist, soll sich der Arrangements wie durch ein Wunder noch einmal bemächtigt haben. An dem Wunder war Jean-Claude Vannier als Dirigent beteiligt. Melody Nelson steht heute als Großtat des französischen Doppels Gainsbourg/Vannier da, dem Sound seiner Zeit entwachsen. Wo Vertreter des Progressive Rock ihre Tracks musikalisch „zutexteten“, gelingt den beiden Franzosen ein erotisches Spiel mit minimalen Sound-Lösungen. Die französische Band Air demonstrierte gut ein Vierteljahrhundert später, dass sie der Lehrstunde Melody Nelson aufmerksam beigewohnt hatte.

Die Wiederveröffentlichung

Super-Deluxe Edition: Box im LP-Format mit zwei CDs, zwei LPs und einer DVD. Plus hochformatiges, 52-seitiges Hardcoverbuch mit zahlreichen Fotos und den Songtexten in Französisch und Englisch.

Deluxe-Edition: zwei CDs und eine DVD im doppelt aufklappbaren Digipack mit 20-seitigem Booklet und den französischen und englischen Texten.