Roedelius :: Lustwandel

Bureau B/Indigo

Rückblick auf die Pionierzeit deutscher Elektronik und gleichzeitig die Vertonung eines Lebensabschnitts.

Mitte bis Ende der 70er-Jahre befanden sich Dieter Moebius und sein ewiger Wegbegleiter Hans-Joachim Roedelius in einer kreativen Hochphase. Es entstanden unzählige Alben, als Cluster, mit ihrem Hausproduzenten Conny Plank, mit Brian Eno und Michael Rother. Der gab einem gemeinsamen Projekt augenzwinkernd den Namen Harmonia, weil es eben nicht so zuging, wie es die Musik oft suggeriert. Doch es waren genau die menschlichen und musikalischen Gegenpole, die dieses permanente Schaffen erst ermöglichten. Der 75-jährige Roedelius, der heute im österreichischen Baden (Wienerwald) lebt, nahm sich trotz der vielen Aktivitäten Zeit für persönliche Aufnahmen. Sie verdeutlichen, dass der Elektronik-Pionier der Mann für die in Töne transformierte Idylle, die ruhigen Klangflüsse, träumerischen Sounds und sanften Melodien war und noch ist. Das Instrumentalwerk THE DIARY OF THE UNFORGOTTEN gehört zur Soloreihe SELBSTPORTRAIT und entstand auf einem mittelalterlichen Anwesen in Forst im Weserbergland. Dort lebte Roedelius fast sieben Jahre unter archaischen Bedingungen als oft mittelloser Selbstversorger und Handwerker in einer WG, umgeben von Stille und reiner Natur. Die zwischen 1973 und 1978 komponierten Stücke sind sein vertontes, intimes Tagebuch, der Soundtrack zum gelebten Hippietraum mit all seinen (Ver-)Stimmungen.

Und weiter geht das fröhliche Wiederveröffentlichen: Langsam, aber sicher bringt Bureau B wohl jeden Ton neu heraus, den Hans-Joachim Roedelius als Solist oder mit einem seiner diversen Projekte eingespielt hat. Das ursprünglich 1981 veröffentlichte LUSTWANDEL fällt allerdings aus der Reihe, weil es ein dezidierter Gegenentwurf ist zum Krautrock, mit dem man Roedelius meist identifiziert. Auf die Gestaltung üppig orchestrierter Klanglandschaften haben er und Produzent Peter Baumann (Tangerine Dream) verzichtet, stattdessen spielt Roedelius meist Klavier, manchmal auch Keyboards, nur selten kommen Rhythmusinstrumente zum Einsatz. Das Ergebnis ist spartanisch, imitiert klassische Kammermusik. Das beginnt mit der Klavier-Etüde, die dem Album den Namen gibt, führt über das nach einem einsamen Dudelsack klingende „Willkommen“ und endet mit „Die andere Blume“. Dazwischen fügt sich alles, so unterschiedlich die Stücke oft auch klingen, zu einem wundervollen Schweben, Fließen und Gleiten. Heute würde LUSTWANDEL wohl unter Chill-out abgelegt, damals blieb das Album weitgehend unverstanden.