PJ Harvey

I INSIDE THE OLD YEAR DYING

Partisan/PIAS/Rough Trade (VÖ: 7.7.)

Zwischen Lyrik und Musik: Die Engländerin lässt die Grenzen verschwimmen in ihrem Minimal Folk, der eine Fluchtmöglichkeit bietet vor dem Horror der Welt da draußen, ohne den Schrecken vergessen zu machen.

PJ-Harvey-Fans wissen, was Geduld heißt: Als die Britin 2016 ihr letztes Studioalbum THE HOPE SIX DEMOLITION PROJECT veröffentlichte, war der Brexit noch eine spinnerte Idee, die sich nach dem Referendum bestimmt erledigt haben würde, war eine Trump Präsidentschaft noch ein Witz in Late-Night-Shows. Und auch zwischen ihren vorherigen Album lagen immer längere Zeitabstände – untätig blieb sie aber nie: erst letztes Jahr veröffentlichte Harvey nicht nur einen Gedichtband, sondern auch nach über zwanzig Jahren Musikkarriere zum ersten Mal eine Compilation all ihrer B-Seiten und Non-Album-Tracks.

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Und jetzt eben: ihr zehntes Album. So eine runde Zahl lädt natürlich dazu ein, es irgendwie zu begehen. Selbst wenn die Feier im radikalen Sich-Entsagen besteht. Der vom alten Jahr und Tod raunende Titel deutet es ja schon an: Das hier ist ein kleiner Tod. Aber auch: Wiedergeburt. Nach den an die Welt gewandten letzten Alben ist I INSIDE THE OLD YEAR DYING ein Rückzug ins Innere, ins Minimale, in dörfische Traumwelten, die sie auch in „Orlam“, dem epischen Gedichtband vom letzten Jahr, geschaffen hat. Inklusive Schaf-Mähen im Hintergrund („Seem An I“) oder verzerrtes Vogelgezwitscher und Bienensummen („A Noiseless Noise“).

Ist das noch ein Album oder die Fortsetzung ihres Lyrikbandes?

Gemeinsam mit alten Synthsounds und PJ Harveys roher, unmittelbarer, manchmal sympathisch schiefer („Autumn Term“), dann wieder feenhaft klarer („All Souls“) Stimme beschwört das alles eine nicht zu greifende, melancholische Nostalgie herauf. Allerdings eine Nostalgie, die sich nach irgendeinem Ort, der nicht von dieser Welt ist, verzehrt. Vielleicht ist es ja PJ Harveys Heimatplanet? Vielleicht, immerhin sollen die Songs des neuen Albums „a resting space“ darstellen, sagt Harvey – dass das im Englischen sowohl ein tröstlicher Ort zum Verweilen sein könnte als auch ein Friedhof, ist sicherlich kein Zufall.

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Und auch nicht, dass schon im ersten Stück „Prayer At The Gate“ eher die dunklen Farben des Klangspektrums zum Tragen kommen. Und sie in der ersten Zeile schon vom Tod singt, wenn auch dem der Kindheit. Die Kindheit und deren Verlust ist immer wieder Thema auf I INSIDE THE OLD YEAR DYING, genauso wie Elvis, dessen „Love Me Tender“ sie immer wieder zitiert, vom ätherischen „Lonesome Tonight“, über die synthlastige Meditation „All Souls“, bis hin zur Indierockweise „A Child’s Question, August“, eingebettet in rätselhafte Erzählungen im Dialekt aus Dorset, satten Naturbeschreibungen vom Wechsel der Jahreszeiten, von Wald und Wiesen.

PJ Harvey: Clips aus Studio teasern neues Album mit John Parish und Flood

Ist das noch ein Album oder die Fortsetzung ihres Lyrikbandes? Die Grenzen zwischen den Kunstformen scheinen bei PJ Harvey zu verschwimmen. Mit ihrem zehnten Album, das sie wieder in Zusammenarbeit mit ihren langjährigen Kollegen John Parish und Flood aufgenommen hat, schafft sie eine Schattenwelt, aus der sie uns erzählt. Was genau, ist nur zu erahnen. Aber was zählt, ist die Stimmung, die sie hier schafft. Tatsächlich – ein Ort der Rückzugs und des Trosts, der aber nicht ohne Spannung, nicht ohne Mystery, nicht ohne Unruhe auskommt. I INSIDE THE OLD YEAR DYING bietet Eskapismus vom Horror der Welt da draußen. Vergessen lässt sie uns PJ Harvey aber trotzdem nicht.

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