Review - Seite 268 von 2063 - Musikexpress

Indie-Pop: Keine Dramen, keine großen Melodien: Thees Uhlmann erzählt auf seinem zweiten Solo-Album Geschichten statt von Gefühlen.

Der traut sich was. „Die Bomben meiner Stadt machen boom boom boom“, singt Thees Uhlmann ziemlich zu Beginn seines zweiten Solo-Albums, versetzt sich im selben Song in Jesus und ist auch um Backgroundchöre nicht verlegen. Vielleicht ist diese direkte und lautmalerische Art des Storytellings seiner Zusammenarbeit mit Casper geschuldet, vielleicht sind Uhlmann aber auch einfach die Ideen ausgegangen. An der Motivation scheitert #2 nämlich nicht: Uhlmann erzählt mit Bluesrock-Instrumentarium von Zugvögeln statt von Lachsen, von Kriegen und von Townships, von Genossen am Tresen und Reihenhaussiedlungen, widmet sich der Anatomie des Feuers und eines Datums, gibt Geschichtsstunden, schaut endgültig nach außen statt nach innen, hat sogar einen Springsteen-Moment („Zerschmettert in Stücke [im Frieden der Nacht]“), den er schon auf seinem Solodebüt so provozierte -und doch hat man sich Tomte und deren gefühlige Gewichtigkeit selten mehr zurückgewünscht. Uhlmann hat einen Haufen Ohrwürmer geschrieben („Weiße Knöchel“, „Trommlermann“), wie sie gleichzeitig egaler kaum sein könnten. Zwischen Fremdscham, Heiterkeit und attestiertem Selbstbewusstsein mäandert somit auch das Gros dieses Albums; Klavier, Orgeln und Tobi Kuhns Produktion (Sportfreunde Stiller, Die Toten Hosen, Tomte) tun ihr Übriges. #2, dieser tongewordene Freischwimmer am Reißbrett, dürfte Uhlmann selbst sehr gut tun. Seinen Fans nur bedingt.

Zeit für Trauer und Drama mit dem Existenzialisten-Pop von Money.

Unterhalten wir uns ein wenig über Erwartungshaltungen. Darüber, wie Vorfreude sie auf unfair hohe Podeste heben kann von Ausmaßen des Mount Everest. Money aus Manchester haben 2012 zwei umwerfende 7-Inches veröffentlicht. Allen voran die todtraurige Piano-Nummer „Goodnight London“ mit ihrem Kammerfeeling, dem Knarren und Knistern, den Dialogen im Hintergrund. Es ging um die Suche nach Bedeutung des Menschen in der wirren, komplexen, korrupten und verdorbenen Welt. Wo steht die Liebe? Was bedeutet sie überhaupt noch? Und wer entscheidet eigentlich, wie ich mich verhalte und was mit mir passiert? Das alles ohne die geballte Faust der Rebellion oder epische Anklage. Dafür mit dem Gefühl von Aufgabe, Kapitulation und Akzeptanz. Für das Album wurden die Songs (u. a. das hymnische Gewaltstück „Who’s Gonna Love You Now“) neu aufgenommen, und auch wenn die 2.0-Versionen auf anderem Level operieren, besitzen sie genügend eigene Stimmung, um zu bestehen. THE SHADOW OF HEAVEN ist der erhoffte große Wurf, auch weil die neuen Songs größtenteils neben den Platzhirschen bestehen können. Da wären allen voran die verträumte Pop-Nummer „Bluebell Fields“, auf der Sänger Jamie Lee zeigt, dass er genau weiß, wann er seine Stimme in welche Richtung zu bewegen hat und das Highlight „Cold Water“, das früh im Song für einen Gänsehaut-Ausbruch sorgt. Sprechen wir darüber, wie schön es ist, wenn nach den Erwartungshaltungen auch die Realität den Mount Everest erklommen hat. Sprechen wir über Money.

Kosmische Musik trifft auf Dub trifft auf Techno trifft auf Ambient: Greg Haines kehrt seinem Frühwerk den Rücken zu und brilliert.

Danke, Denovali Records. Ganz allgemein für die Passion, Musik als Kunst form zu betrachten, für die einzigartigen Swingfeste und im Speziellen für die liebevollen Artworks der Platten. Und das Lob will einfach nicht verstummen, gerade weil sich das Label aus Wenden im Frühjahr dazu entschied, die ersten drei LPs von Greg Haines wieder zu veröffentlichen. Die Alben sind beinahe als Vermächtnis zu verstehen, denn für sein neues Projekt WHERE WE WERE distanziert sich der britische Wahl-Berliner von seinen klassisch inspirierten Kammerspiel-und Streicherelegien und wendet sich analogen Synthesizern zu. Bearbeitet durch alte Bandmaschinen im Studio von Nils Frahm sind acht Stücke als Produkt einjähriger Improvisation entstanden, die ein kohärentes Ganzes ergeben. Haines betritt einen für ihn neuen Pfad aus Rhythmus-Schichtungen sowie akustischen Einsprengseln und bleibt doch Meister der Struktur. Er sucht vor allem die Dualität als Prinzip: laut und leise, hier pulsierend, dort entschleunigt, beinahe immer cineastisch anmutend, betrübt und glückselig zugleich. Piano-Rührseligkeit, Vibrafon und Percussions werden in atmosphärischen Soundscapes aus Drones, Delays und elektroakustischen Beats konserviert, sodass Clint Mansell, Fela Kuti, Tangerine Dream und Moritz von Oswald schemenhaft als Referenzmodelle auftauchen. WHERE WE WERE entfaltet eine Kraft, die das gesamte Portfolio menschlicher Emotionen abbildet.

Turbo/Rough Trade

Fulminanter Techno aus Schottland. Irgendwann gewöhnt man sich an das Altwerden. Und zwar dann, wenn die nächsten Jungtalente in den Startlöchern stehen und Platten veröffentlichen, zu deren Referenzen eher ihre Väter getanzt haben. So auch bei den beiden Schotten Calum Macleod and Liam Robertson, die vom kanadischen Elektro-House-Guru Tiga entdeckt und für sein Label Turbo unter Vertrag genommen wurden. Mit Anfang 20 gelingt den beiden nach einigen EPs jetzt der ganz große Wurf. Ein zutiefst tiefes und britisch klingendes Techno-Album, das seine Wurzeln in den frühen 90er-Jahren hat. Ein Album, das den melodischen Knüppel als Taktstock missbraucht („Uqwenmokdan“) und so an Größen wie Surgeon und dessen Projekt British Murder Boys erinnert. Industrial und Acid, so warm und gnadenlos wie in „Khevsurian“ und „Topless Female Nudity“, die an den neuen, härteren Techno anknüpfen, den zum Beispiel der Londoner DJ und Produzent Jamie „Blawan“ Roberts in letzter Zeit erfolgreich wieder hochgeholt hat. Dazu gibt es eindeutige Bezüge in Richtung Jungle wie im wahnwitzigen Rave-Spektakel „Future 1“, um auch wirklich jeden abzuholen, der an der Geschichte des britischen Techno interessiert ist. Referenzen an die musikalische Gegenwart gibt es auf GHOST SYSTEMS RAVE auch. Zum Beispiel in dem verdächtig nach Actress klingenden „Roche Lobe (System)“ mit seinen experimentellen Bleep-und Noise-Spielereien. Clouds zeigen auf GHOST SYSTEMS RAVE, dass sie ganz genau wissen, wie Vergangenheit und Gegenwart verknüpft werden müssen, um im Techno des laufenden Jahres Akzente zu setzen. Das ist Anerkennung wert – und den Zwanziger für das Doppel-Vinyl.

Parlophone/Warner (VÖ: 30.8.)

Totgesagte leben länger. Oder: Die wundersame Genesung des Patienten Indie-Pop am Beispiel des dritten Babyshambles-Albums. Die gute Nachricht im Zusammenhang mit SEQUEL TO THE PREQUEL: Es gab keine Nachrichten über Pete Doherty im Vorfeld. Und dieses Vorfeld, also die Zeit zwischen der Ankündigung des dritten Babyshambles-Albums und seiner Veröffentlichung, war denkbar kurz. Keine Meldungen über Einbrüche, Diebstähle, Drogen-und Alkoholexzesse, Gerichtsprozesse, verpasste und verpatzte Auftritte, keine Skandälchen, keine Bilder aus Blut, keine Fotos von koksenden Model-Freundinnen aus dem Aufnahmestudio. Um Pete Doherty ist es ziemlich ruhig gewesen in den vergangenen Jahren. Zumindest in den Medien, die gerne und viel über die öffentliche Person Doherty berichten und selten über seine Musik. Also diesmal kein Absuchen der Texte mit der Lupe nach autobiografischen Bezügen, um sie mit aktuellen Meldungen aus der Yellow Press abzugleichen. Sieben Jahre nach dem letzten Babyshambles-Album SHOTTER’S NATION und vier Jahre nach Dohertys Solo-Album GRACE/WASTELAND werden wir wieder einmal an eine eigentliche Selbstverständlichkeit erinnert: Der sogenannte Britpop ist schon lange den Händen der „Class of 1992“ entrissen worden und wird auf ganz anderen Feldern verhandelt. Nach DOWN IN ALBION (2005), das von Mick Jones produziert wurde, saß Stephen Street zum zweiten Mal nach SHOTTER’S NATION (2007) am Produzentenpult. So viel vorab: Jeder einzelne Song auf SEQUEL TO THE PREQUEL wäre der einsame Höhepunkt auf den Alben Nummer zwei, drei und vier der anderen Überlebenden „Stars of 2005“. Man kann auch sagen, wer Doherty und sein Songwriting nicht erst nimmt, der sollte sein Verhältnis zur Popmusik grundsätzlich infrage stellen.

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