Lorde
SOLAR POWER
Universal (20.08.2021)
Hare Rama statt Melodrama: Die Frühvollendete macht nun Westküsten-Hippie-Pop.
Ein bisschen wirkt es, als sei Lorde einfach nie ausgestiegen. Als sei sie weitergefahren in dem Auto, in dem sie im Video zum Song „Green Light“ vor vier Jahren durch die Großstadtnacht rauschte, um am hellen Morgen auf der Küstenstraße einzufahren – die Sirenengesänge ihres neuen Songs „Solar Power“ im Ohr: „Forget all of the tears that you’ve cried, it’s over, over, over, over.“
Im Video zum Song feiert sie ein Fest am Strand, bei dem bis in die Haarspitzen ihrer Hippiefreundinnen wirklich alles passt: Lorde raucht komisches Kraut aus einer Fenchelknolle und lässt sich von ihrer Kommune – zum Einsatz des George-Michael-„Freedom“-artigen Refrains, auf den man hibbelig wartet wie auf die nächsten Ozeanwelle – gen Sonne heben wie ein Guru. Verständlich: Wer mit 16 einen Welthit wie „Royals“ landet, muss die Rucksackreisen-und-Kiffer-Phase eben mit Mitte 20 nachholen.
„You’re all gonna watch me disappear into the sun“, hatte Lorde 2017 auf MELODRAMA gesungen – einem großen, elektronischen Pop-Album, eine Platte wie die Partynacht nach der ersten Trennung, atemlos und berstend vor Leben. Auf SOLAR POWER, dem dritten Album der Neuseeländerin, hat sich ihre Ankündigung bewahrheitet: Die Sonne ist da, und mit ihr kommen Wärme und Schatten. Schon bevor es im dritten Song wirklich nach „California“ geht, fliegen die Gedanken gen Laurel Canyon, so milde wehmütig, wie Lorde hier übers Leben und Älterwerden, über Vergänglichkeit und ihre Malaise als einstiger Wunder-Teen nachgrübelt, umweht von Akustikgitarren statt Synthesizern. Für eine Sängerin, der David Bowie einst attestierte, die Zukunft des Pop zu sein, klingen die Harmonien in Songs wie „Leader Of A New Regime“ verdammt authentisch nach Crosby, Stills & Nash. Das Stück mit dem Über-Titel „Stoned At The Nail Salon“ wiederum erinnert mit seinem „California Dreaming“-meets-Chris-Isaak-Sound verdächtig an Lana Del Rey.
Obwohl sich Lorde gegen diese Lesart verwehrt, mag dazu auch Produzenten-Intimus Jack Antonoff beigetragen haben, der Taylor Swifts Hinwendung zur FOLKLORE betreute und eben Lana Del Rey zuletzt wieder ins 60ies-Folk-Outfit half. Deren Femme-Fatale- (oder eher Femme-Fragile-)Ansatz geht Lorde allerdings ab: Selbst der provokante Covershot aus der Upskirting-Perspektive sieht bei ihr nach Spiel und Spaß aus.
Ihr Sommertraum kippt durchaus auch mal ins Dunkle. Grundsätzlich gibt sie ihrem Sound aber andere Geheimzutaten bei als die ewig morbide Lana Del Rey. Wenn sie high und sinnierend im Nagelstudio statt im Canyon hockt, hat das durchaus einen feinen Humor, den man bei Bedarf selbstironisch finden kann – auch wenn Lorde die New-Age-Ästhetik sonst ziemlich ernst meint.
Ein Westküstenfolk-Pastiche-Album ist SOLAR POWER trotzdem nicht. Sondern eine fantastische Platte darüber, wie sich eine Frühvollendete ein Westküstenfolkalbum vorstellt, dabei aber Kind ihrer Zeit bleibt: Songs wie das Titelstück oder „Mood Ring“ zitieren den Sonnenscheinpop der frühen Nelly Furtado oder All Saints zu „Pure Shores“-Zeiten – Musik, die Millennials melancholisch macht. „Don’t you think the early 2000s seem so far away?“, fragt Lorde in „Mood Ring“.
Klar, girl. Schon MELODRAMA kommt einem heute vor wie aus einer anderen Ära. Einer Zeit, in der ostentativ „weirde“ Künstler*innen wie Billie Eilish noch nicht Pop regierten. Die treiben nun das Dunkle und Verdrehte, das bei Lorde schon angelegt war, auf die Spitze. Ob auch Billie Eilish bald wie Lorde, Lana del Rey und Taylor Swift mit der Akustischen in die Natur ziehen wird? Und was sagt uns der Folk-Turn der größten lebenden (weißen) Popsängerinnen über unsere komische Gegenwart? Man würde Lorde gern fragen. Aber die sitzt bestimmt schon wieder im Auto. Und fährt an einen ganz neuen, uns unbekannten Ort.