Leon der Profi

Kein Mensch interessiert sich dafür, ob das finanzmächtige Hollywood dem kränkelnden Euro-Kino den Garaus macht. Alle Argumente sind genannt, alle Litaneien angestimmt und letztlich gehört Patriotismus nicht zur Pflicht des Publikums, das ein Recht auf gute Filme hat – egal, woher sie kommen. Auch Luc Besson (‚Nikita’/Le Grand Bleu‘) konnte das Gejammer nicht mehr hören und drehte seine zärtlich brutale Killer-Ballade ‚Leon‘ in Amerika. So inszeniert nur ein wahrer Weltbürger: Mit der Geschichte über einen traurigen, clownesken Berufskiller, dessen harte Schale durch die Liebe einer frühreifen Lolita zum Platzen gebracht wird, beweist Besson, daß nicht Nationalitäten, sondern unvergeßliche Bilder zählen. Die Stars sind allesamt Franzosen, New York ist das Schlachtfeld und die Story paart europäische Sensibilität mit US-Energie. Ein echtes Meisterwerk -— jenseits von Hollywood oder Brüssel.

Pret-A-Porter

(USA, 132 Min.)

Regie: Robert Altman; Darsteller: Sophia Loren, Marcello Mastroianni, Julia Roberts, Tim Robbins

Keine Branche schreit so sehr danach, veräppelt und verachtet zu werden wie die eitle Mode-Industrie. Und als der große Regie-Satiriker Robert Altman nach Paris ging, um seine Kameras auf Mannequins, Designer und Catwalk-Zaungäste zu richten, erwartete jeder eine Generalabrechnung mit den Fashion-Gecken. Aber weit gefehlt. Nicht die Tatsache, daß ‚Ready To Wear‘ (O-Titel) Altmans schwächste Arbeit seit langem geworden ist, und er diesmal nichts mit dem üblichen Star-Aufgebot und der bewährten Episodenstruktur anfangen konnte, sorgte für Enttäuschung. Frustrierend war vielmehr, daß nicht einmal ein grummeliger Gesellschaftskritiker wie Altman dem Reiz der Gelackten und Wohlproportionierten widerstehen konnte. Die Models wickelten ihn (wie uns alle?) um den Finger, und Karl Lagerfeld zog wegen nichts und wieder nichts vor Gericht. Dabei steht das Strafmaß für Robert Altman bereits fest: Er muß sich zehn Mal den neuen Cindy Crawford-Film ansehen. Und das ist wirklich hart.

Clerks – Die Ladenhüter

(USA, 89 Min.)

Regie: Kevin Smith; Darsteller: Brian O’Halloran, Jeff Anderson, Marilyn Ghigliotti

Viel ist über das Comeback des Teenage-Movies spekuliert worden. Doch weder die prätentiöse Mogelpackung ‚Kids‘ noch die fröhliche Phantasie ‚Clueless‘ lieferten glaubhafte Statements zum Befinden junger Leute in den 9oern. Nein, den Vogel schoß der Debütant Kevin Smith mit seiner 7.000-Dollar-Dreistigkeit ‚Clerks‘ ab, in der er unangestrengt, sympathisch und humorvoll zwei junge Verkäufer präsentierte, die wie die philosophischen Cousins von Beavis und Butthead wirkten. So groß ihr Mundwerk war, so anarchisch benahmen sie sich auch. Doch das allein wäre nicht der Rede wert. Denn im Unterschied zu anderen Kino-Vertretern ihrer Generation (die oft an Hirnvergreisungzu leiden schienen) hatten die ‚Clerks‘ auch Kluges zu sagen. Zu Oralsex und Sport, zu Kapitalismus und ‚Star Wars‘. Sprich: zu den wichtigen Dingen des Lebens.

Dumm und Dümmer

(USA, 106 Min.)

Regie: Peter Farrelly; Darsteller: Jim Carrey, Jeff Daniels, Lauren Holly, Teri Garr

Die Zivilisation wird wegen Jim Carrey bestimmt nicht untergehen. Aber sie steht dicht davor. So sehr personifiziert der Senkrechtstarter des Jahrzehnts das völlige Desinteresse an Inhalten, Integrität oder Intelligenz, daß sich schon weltweit Feuilletonisten zusammengerottet haben, die Carrey am liebsten mit Lachgas vergiften wollen. Es wird ihnen nichts nützen – an dem Manne prallen Kritik und Unverständnis ab wie an einem Kanzler im 14. Regierungsjahr. Mit seinen Grimassen, über die einer wie Jerry Lewis nur milde lächeln kann, hat er es nicht nur zum bestbezahlten Gesichtsvermieter der Branche gebracht (20, in Worten: zwanzig Millionen Dollar pro Film). Sondern er signalisierte den Produzenten, daß sich Deppen und Doofheit besser verkaufen denn je. Und alle vernahmen sie die Botschaft mit Wohlwollen, weshalb Komödien derzeit im Kino gerne mit katastrophalem und debilem Kalauertum verwechselt werden. Und das ist überhaupt nicht lustig.

Betty und ihre Schwestern

(USA, 118 Min.)

Regie: Gillian Armstrong; Darsteller: Winona Ryder, Susan Sarandon, Trini Alvarado, Samantha Mathis

Wenn man dem Kino traut, waren Frauen 1995 nur mit Tod und Tupperware beschäftigt. Denn zum einen gab es jede Menge durchwachsener Filme über mordende Mädels (‚Heavenly Creatures‘, ‚Butterfly Kiss‘, ‚Fun‘). Doch weit augenfälliger war die Rückbesinnung auf biedere Zeiten. Kein Monat ohne Frauenfilm, in dem nicht Heim, Herd und sorgfältig ausgewählte Herzbuben als weibliche Lebensinhalte deklariert wurden – und neben konservativem Kitsch wie ‚Kaffee, Milch und Zucker‘, ‚The Power Of Love‘ oder ‚Die Brücken am Fluß‘ war die Schmonzette ‚Betty und ihre Schwestern‘ nur das prominenteste Beispiel. Aber Fans fand diese keimfreie Bodenständigkeit durchaus. Der republikanische Präsidentschaftsbewerber Bob Dole etwa hat es sich zur Aufgabe gemacht, unmoralische Hollywood-Botschaften zu bekämpfen. Kein Wunder, daß ‚Betty‘ sein Lieblingsfilm des Jahres war.

Kiss Of Death

(USA; 101 Min.)

Regie: Barbet Schroeder; Darsteller: David Caruso, Samuel L. Jackson, Nicolas Cage, Helen Hunt

Es war zu erwarten, daß der weltweite Erfolg von ‚Pulp Fiction‘ einen Boom harter Gangsterfilme und imitationsfreudiger Taran-teenies nach sich ziehen würde. Doch wo sich die neue Garde der Genrefilmer mit Blut- und Zynismus-Orgien wie ‚Killing Zoe‘, ‚Desperado‘ oder ‚Die üblichen Verdächtigen‘ eher unbeholfen darin zeigt, Quentins Qualitäten zu erreichen, hat der alte Hase Barbet Schroeder die Gunst der Stupde genutzt, und dem Crime-Kino zu einem modernen Klassiker verholfen. In diesem Remake fesselt zunächst der Plot um einen zwischen die Schußlinie von Mob und Staatsgewalt geschubsten Loser, den David Caruso mit der Verbissenheit eines Jimmy Cagney spielt. Doch was den Film letztendlich unverzichtbar macht, ist die nervöse Atmosphäre, sind die knackigen Dialoge und geschliffenen Nebenfiguren. Da schließt sich dann der Kreis: Denn mit Sam Jackson und Ving Rhames hat ‚Kiss Of Death‘ zwei verdiente ‚Pulp Fiction‘-Veteranen auf der Besetzungsliste.

Ed Wood

(USA, 106 Min.)

Regie: Tim Burton; Darsteller: Johnny Depp, Martin Landau, Sarah Jessica Parker, Patricia Arquette

Als wir ‚Ed Wood‘ im Juli zum konkurrenzlosen „„Film des Monats“ kürten, hatten wir es schon befürchtet. Doch als dann tatsächlich nur ein paar tausend Zuschauer in Burtons Geniestreich kleckerten, war in der Branche dennoch ein trauriges Seufzen zu hören. Lag es am Marketing, am hochsommerlichen Starttermin oder an den Schwarzweißbildern? Jedenfalls erlitt ‚Ed Wood‘ hier das gleiche Schicksal wie in den USA – der mutigste, originellste und schlichtweg schönste Film seit Jahren blieb trotz emphatischer Kritiken und trotz Johnny Depps Schauspielkunst weitgehend unentdeckt. Aber so ist das eben mit großer Kunst – sie hat es schwer, sich gegen das allseits präsente Mittelmaß zu behaupten. Weshalb nur zu hoffen bleibt, daß Burtons liebevolle, tragikomische Film-Biographie über den offiziell miesesten Regisseur aller Zeiten und Welten wenigstens retrospektiv ihre verdiente Gerechtigkeit erfährt. Der beste Film des Monats? Nichts da. ‚Ed Wood‘ ist der beste Film des Jahres 1995.

Betty und kleine Morde unter Freunden

(GB; 90 Min.)

Regie: Danny Boyle; Darsteller: Kerry Fox, Christopher Eccleston, Ewan McGregor

Keine zehn Jahre ist es her, da das britische Indie-Kino in voller Blüte stand. Doch als die ruinösen Folgen der ThatcherÄra die kleinen Filmfirmen erreichten, war Schluß mit frechem ‚Sammie und Rosie tun es‘-Stoff. Trübe Zeiten folgten, in denen aus England kaum mehr als edle Langeweile der Establishment-Filmer Merchant/lvory kam (deren 95er-Beitrag ‚Jefferson in Paris‘ mit Haft im Tower bestraft werden sollte). Doch nun tut sich wieder was im Königreich. Mit geliehenem Geld und genuinem Talent entstehen böse Streifen wie das Anti-WG-Mordsvergnügen ‚Shallow Grave‘ (O-Titel). Überhaupt scheint Euro-Kino am besten ohne Fördergelder zu funktionieren. Denn auch der dänische Knüller ‚Nightwatch‘ und die deutsche Moritat ‚Der Totmacher‘ wurden nur durch den bedingungslosen Einsatz ihrer Macher möglich.

Water-World

(USA; 120 Min.)

Regie: Kevin Reynolds; Darsteller: Kevin Costner, Dennis Hopper, Jeanne Tripplethorn Scheinbar ist alles über den teuersten Film aller Zeiten gesagt worden. Mit wachsender Schadenfreude verfolgten wir, wie die Produktion von einer Katastrophe ins nächste Desaster taumelte. Dann genossen wir die Schlammschlacht zwischen Star und Regisseur. Und zuletzt zählten wir die Plot-Löcher des fertigen Produktes und kamen auf eine Summe, die der Anzahl der Fische im Atlantik entsprach. War’s das? Nicht ganz. Denn allmählich macht sich der Verdacht breit, daß das ‚Waterworld‘-Debakel kalkuliert und generalstabsmäßig geplant war. Zum einen wirkt das Unterfangen rückblickend wie eine gigantische PR-Aktion für Hollywood, denn immerhin beherrschte das Thema ‚Waterworld‘ wochenlang die Medien. Und neuerdings werden Gerüchte laut, daß die Finanziers des Universal-Studios das Projekt haben eskalieren lassen, um den japanischen Firmenbesitzer zu entmutigen was wohl letztendlich auch gelang. Und wir dachten schon, es ginge lediglich um banales Kino…

Smoke

(USA; 112 Min.)

Regie: Wayne Wang; Darsteller: Harvey Keitel, William Hurt, Forest Whitaker, Stockard Channing

Kino als reine Talkshow, Dialoge im Mittelpunkt des Geschehens. Doch nicht alles, was auf den ersten Blick altmodisch anmutet, muß zugleich auch gestrig sein. So entwickelte sich ausgerechnet ein gleichermaßen unauffälliger wie exquisiter Ensemblefilm zum geheimen Hit des Herbstes, der die längst verloren geglaubte Tradition des Erzählkinos pflegte. In seiner Schilderung wirkt ‚Smoke‘ womöglich so unspektakulär wie Schwall und Rauch – denn welchen Reiz soll es schon haben, wenn sich ein paar passionierte Raucher skurrile Geschichten auftischen und nebenbei mit den Unbilden des Alltags klarzukommen versuchen? Doch wer mit eigenen Augen gesehen hat, wie etwa Tabakhändler Harvey Keitel mit den Augen zwinkert, wenn er dem stoischen William Hurt ein Märchen auftischt, dem gerinnt jede Beschreibung von ‚Smoke‘ zu einer Liebeserklärung. Denn dieser Film weiß genau, daß es vor allem die kleinen Dinge sind, die das Leben überhaupt lebenswert machen. Und dazu gehören eben gerade auch kleine, kostbare Stories aus New York.

Sieben

(USA; 130 Min.)

Regie: David Fincher; Darsteller: Brad Pitt, Morgan Freeman, Kevin Spacey

Sie haben alle gelacht, als Sonnyboy Brad Pitt im vergangenen Frühling mit ‚Legenden der Leidenschaft‘ frischgefönt und zähneknirschend an die Spitze des Box-Office stürmte. Jetzt lacht jedoch niemand mehr, denn ohne den schönen Pitt wäre ‚Sieben‘ niemals zustande gekommen. Warum? Weil solch ein depressiver, düsterer und kompromißloser Stoff ohne echten Star an der Credits-Spitze nie eine Chance gehabt hätte. Und dann der Clou: Knapp 100 Millionen Dollar hat dieser klaustrophobische Thriller alleine in seinem Mutterland USA eingespielt, in dem ein Serienkiller unaussprechliche Dinge anstellt, zwei hartgekochte Cops an Leib und Seele gequält werden und Regisseur David Fincher den Zuschauer in ein Pandämonium der Nacht und Angst zwingt. Die Konsequenz des Erfolges: Schon prognostiziert die Riege der Weisen des Entertainment-Busineß eine Welle düsterer Leinwand-Epen („„the bleak period“), in denen das Gute ganz bewußt nur verlieren kann. Schaden könnte es wahrlich nicht, wenn diese ewigen Happy-Ends Made in Hollywood endlich mal ein Ende hätten.

Der Totmacher

(Deutschland; 114 Min.)

Regie: Romuald Karmakar; Darsteller: Götz George, Jürgen Hentsch FREUNDEN

Es kommt nur alle Schaltjahre vor, daß sich fette US-Firmen wie Warner Bros, darum reißen, einen deutschen Film in ihr Programm zu hieven. Doch diesmal haben die Herrschaften Geschmackssicherheit bewiesen. Denn nachdem all die „quälenden „Beziehungskomödien“ (schon dieses Wort ist Grund genug zum Kino-Boykott) und der Esoterik-Flop ‚Schlafes Bruder‘ wie immer den kläglichen Zustand teutonischen Filmschaffens bestätigten, riß ‚Der Totmacher‘ die gesamte Branche aus dem Tiefschlaf. Ein beklemmendes Psycho-Kammerspiel, das die Gehirnwindungen eines Massenmörders wie mit einem Seziermesser bloßlegt. Mit Götz George ohne Ludenbrille, dafür aber mit dem Teufel im Pakt. Phänomenal, ein Triumph! Und so hatten also die letzten Tage des Kinojahres 1995 doch noch zwei faustdicke Überraschungen zu bieten. Von der einen, die mit der Rückkehr eines gewissen 007 zu tun hat, weiß längst die ganze Welt. Die andere wird ihren internationalen Siegeszug noch antreten, kein Zweifel.