La Paloma. Das Lied – von Sigrid Faltin & Andreas Schäfler, Marebuchuerlag, 292 Seiten, 19,90€€

Manch einem Angehörigen meiner Generation kräuseln sich die Körperhaare, wenn das Lied ertönt: „Auf, Matrosen, ohe, in die stürmende See! Schwarze Gedanken, sie wanken und fliehn geschwind uns wie Sturm und Wind…“ – da erstehen Horrortraumbilder von Schrankwänden, vollgestellt mit Plastik-Venediggondeln, Capri-Aschenbechern, Lago-maggiore-Souvenirbildern und WM-54-Gedenktellern, in deren Angesicht Mama den Sonntagnachmittag mit Lufthansacocktail vor der Frankenfeld-Glotze verdämmerte, während Papa drunten den Taunus wienerte und hinterher die Kinder drosch. Wenn man weiter zurückgeht bis zum Uropa, der als Matrose in die Kolonien dampferte, wird’s auch nicht besser; dabei ist das eigentlich alles Unsinn und das wohl meistgecoverte und beliebteste Lied der Menschheitsgeschichte bloß deshalb ein derart prototypisches deutsches Spießer-Item geworden, weil ein wirklich guter eigener Schlager halt nicht hergehen wollte, weder zu Kaisers noch zu Hecks Zeiten. Die wahre Geschichte von „La Paloma“ ist Welten entfernt vom Klischee (und von Ralph Siegel sowieso): Sie beginnt 1809 im baskischen Vitona; da kam Sebastian Iradier zur Welt, der als Dandy, Komponist, Gesangs- und Gitarrenlehrer in Madrid und Paris, als Bekannter von Merimee, Rossini und vielen adeligen Damen kaum eine Fußnote in der Weltgeschichte wert wäre, wenn er nicht um 1855 (angeblich in Havanna) die berühmteste Weise der Neuzeit komponiert hätte (von der übrigens nur die Hälfte überliefert ist und gespielt wird – die andere Hälfte fanden die Autoren des Buchs in der Kunstschule von Vitoria).

Damit fängt die mit Herzblut und unter einigen Reisestrapazen recherchierte Geschichte erst an – mit Iradiers Tod auf Seite 25; -was folgt, könnte auch tausende Seiten füllen: über die Geburt der Habanera, den österreichischen Exportkaiser Maximilian, der als vergeblicher Herrscher in Mexiko erschossen wurde, „La Paloma“ als Grablied und Protestsong, als Elvis-Hawaii-Schnulze, als deutsche Signaturmelodie (dank Hans Albers), in Auschwitz, Afghanistan und Afrika, über den der Faszination auch zugrunde liegenden Mythos der Taube, das schöne Lied in den Krallen von Freddy Quinn und ungezählten Knödelkehlen, und endlich muss es (neben Gastkommentaren) selbstverständlich auch noch eine kommentierte Diskografie sein, schließlich gibt es neben all der verwehten Historie auch die handfeste auf Hekatomben von Tonträgern. Vier CDs mit 101 kuriosen, irren, herzerweichenden Versionen gibt’s dazu, und wem das noch nicht genügt, für den erscheinen (nicht „zeitgleich“, aber immerhin fast gleichzeitig) bei Trikont schon wieder zwei neue.