Freiwillige Selbstkontrolle ist ein :: Mode & Verzweiflung Produkt

Disko B/Indigo

Die beste deutsche Band der vergangenen Jahrzehnte aus dem Rückspiegel der kritischen Verzückung. Ein Lob auf dieses dolle Querverbindungsding mit Links zu Pop, Punk, Disco, Techno, Theorie und Texas.

30 Jahre Freiwillige Selbstkontrolle, 30 Jahre Paris Hilton, 30 Jahre „Wetten, dass …?“. Florian Illies verabschiedete in der Zeit Thomas Gottschalk als letzten großen Vertreter der Bonner Republik. F.S.K.-Sängerin Michaela Melián begrüßte 30 Jahre zuvor diejenigen, denen der Zutritt zu dieser Republik verwehrt blieb: „Hallo, Neger in Afrika, hallo, Brüder und Schwestern in der DDR.“ Wir erinnern uns der Tage, als Andreas Doraus „Fred vom Jupiter“ der Traum aller deutschsprachigen Frauen war. Man kann sich in den Songs der Münchener Band immer wieder durch die vergangenen 30 Jahre drehen, mit der Plattennadel am Ohr und den Fragen an sich selbst im Hinterkopf. Man kann die Tanzlokale und Bierzelte der alten BRD besuchen, nach dem Mauerfall die „Flagge verbrennen (Regierung ertränken)“ und im Gender-Diskurs dieser Jahre hart auf der Tanzfläche aufschlagen. Heiß ersehnt, nun endlich eingetroffen: Die 3-CD-Popschachtel mit 53 ausgewählten F.S.K.-Songs und einem Pixiebüchlein voller kritischer Würdigungen, längst vergessener Fotos und gut aussehender Plattencover. Die 30-Jahre-Rückschau erzählt vor allem diese dolle Querverbindungsgeschichte zwischen Pop, Punk, Disco, Techno, Theorie und Texas. FSK ist ein Mode & Verzweiflung Produkt ist kein Best-of geworden, eher eine Expedition in das pochende Herz des subversiven Chansons, in die Außenposten raffinierter Umdeutungen und die Regionen, wo Gehörtes und Gelesenes aufeinandertreffen und angenehm verwirren. Thomas Meinecke vermag das mit seinen Worten, Michaela Melián mit dem Raunen einer distanzierten Diseuse, Carl Oesterhelt als Beatmeister und die Kollegen Petzi und Hoffmann als stilübergreifende Gitarreros. Bei aller Liebe zur Heimatmusik, F.S.K. galten Polka und Jodler immer auch als Spielball der Dissidenz, aber nur bis zu dem Zeitpunkt, da ihre Produktionen als Antimaschinenmusik missverstanden wurden. Solchen Entwicklungen begegnete die Band mit Humor, Sarkasmus, Forscherdrang und intensiver Hinwendung zu neuen Liebchen, man kann auch sagen: Richtungswechseln. Und dies passierte im Einzelnen: F.S.K. suchen den Pop in „sprechenden“ Eins-zu-eins-Transkriptionen („Komm gib mir deine Hand“), recherchieren in den Zwischenräumen der Historie („The Moog Banjo Revival“), entdecken das transatlantische Freundschaftslied (mit David Lowery, Michael Hurley und Mark Linkous), später das Leben in den elektronischen Zeitschleifen, das Spiel mit den Diskurs-Tracks, die sich um House- und Sylvester-Disco drehen. Sie sangen das „Tagesschau“-Intro und spielten anschließend Baller-Punk (1981), schenkten ihrer Queer-Study „1+1=3“ lesbischen Phallus und Lapsteel (1995). So groß ist die Welt keiner anderen deutschen Band der vergangenen Jahrzehnte. Groß genug für Seiteneinsteiger, Zuspätkommer und selbst notorische Country-Verweigerer.