Eiríkur Örn Norðdahl :: Böse
Island, Lettland, Holocaust, Neue Nazis: 650 Seiten Wortgewalt .
„Eine Prise Tourette, eine Handvoll MS, etwas Psoriasis und ein Schuss zerebrale Kinderlähmung – alles verrührt mit einer großen Portion allgemeinem Unglück“ – so beschreibt Agnes, die Protagonistin von „Böse“, einmal den Neonazi an sich. Trotzdem: Sie schläft mit einem.
Der hat mit den tumben Gestalten, auf die sich das Zitat bezieht, nichts zu tun, im Gegenteil: Er ist geistreich, vermeintlich intellektuell und „vibriert am ganzen Körper, als hätte er Klapperschlangen mit Aufmerksamkeitsdefizit in den Gliedern“. Trotzdem ist die Affäre ein Problem, denn sie hat weitreichende Konsequenzen, und eigentlich ist sie doch mit dem etwas trottelig wirkenden Ómar zusammen. Es ist eine „Hand in Hand durch Feld und Wiesen“-Liebe, die in einem gemeinsamen Kind mündet. Ómar wiederum ist von der Affäre naturgemäß nicht angetan und sucht sein Heil in einer filmreichen, aber tragischen Reaktion. So weit der – stark vereinfachte – Ausgangspunkt dieses Romans.
Eine Dreiecksgeschichte also, zumindest, was das Handlungsgerüst angeht. Rasch fällt jedoch auf, dass Eiríkur Örn Norðdahl das Grobe vernachlässigt und sich lieber um die Feinheiten kümmert. Er wechselt die Erzählperspektive immer wieder, setzt seine Handlung aus zahllosen kleinen Notizen zu einer Art epochenüberspannenden Patchwork zusammen. Man braucht ein wenig, bis man dieses Patchwork versteht, manchmal beginnt ein Kapitel so, als hätte einen jemand da gerade von einer sehr hohen Klippe gestoßen.
Aber nach einer Weile ist man drin in diesem wortgewaltigen Wälzer, der von der Liebe erzählt und von der Enttäuschung und dabei doch viel weiter geht: Der Holocaust ist einer der Scharniere in diesem Buch, immer wieder kommt Norðdahl darauf zurück, ebenso auf Zeiträume, die noch tiefer in der Vergangenheit liegen. Mit einem Humor, der oft lakonisch ist, manchmal höhnisch, aber Zynismus stets umschifft, schafft er Bezüge zu politischen und sozialen Entwicklungen der Gegenwart und erzählt dabei auch völlig Absurdes wie die Geschichte des Hundes, der wusste, wer Adolf Hitler ist. Fordernde, berührende, wertvolle Lektüre.
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