Diverse – Babylon’s Burnin‘ :: 30 Jahre keine Zukunft

Als Parole für die pessimistische Grundeinstellung einer ganzen Generation fand sich „No Future“, ein Zitat aus dem Sex-Pistols-Song „God Save The Queen„, zuerst auf Häuserwänden, Autos, Bussen und Litfasssäulen. Dann auch auf Postern, Anstecknadeln und Nietenlederjacken. Zum 30. Jubiläum des Punk erlebt der griffige Slogan eine Renaissance. Auch auf dem hochformatigen Cover des4-CD-Box-Sets Babylon’s Burnin‘:

The Rough’n’Ready Rise Of Punk Rawk 1973-1978 prangt der Spruch in Form eines Buttons zwischen grobkörnigen Schwarzweiß-Fotos von Suicide, Richard Hell und den Sex Pistols.

Den Spirit der Punk-Gründerjahre in eine CD-Box stecken? Versuche gab es da schon einige. Auch Babylon’s Burnin‘ ist nicht der Weisheit letzter Schluss aber zumindest sehr nahe dran. Vier CDs und ein 55-seitiges Buch mit einem Essay sowie Track-by-Track-Anmerkungen von Chronist Clinton Heylin führen ohne Anspruch auf Komplettheit durch die Annalen der Punk-Historie dies- und jenseits des Atlantiks. Als Hörbeispiele dienen zahllose Single-Originale, EP-Auszüge, Key-Alben-Tracks, aber auch Demos, BBC-Sessions, Konzertmitschnitte und Archivnovitäten. 91 Songs als Momentaufnahmen einer musikalisch hochexplosiven Ära, als Traditionen und Werte für einen Moment lang außer Kraft gesetzt schienen und Anarchie den Zeitgeist beherrschte. Obwohl die Protagonisten stilistisch sehr unterschiedlich ausfallen, ist allen eines gemein: Jede(r) der 48 Bands und Interpreten war maßgeblich am Mythos Punk beteiligt, dessen Nachwehen auch noch drei Dekaden später zu spüren sind.

Der alte Gelehrtenstreit, ob Punk nun zuerst in New York oder London das Licht der Welt erblickte, ist ebenso müßig wie unerheblich. Der von sozio-politischen Strömungen geprägte Zeitgeist ist nicht abhängig von der geografischen Lage, manifestiert sich aber lieber in den dunkleren Ecken der Metropolen als in ländlicher Idylle. Tatsache ist, dass sich An fang der 70er in New York als Gegenbewegung zum Perfektionismus der Rock-Elite ein neuer künstlerischer Ansatz entwickelte, der sich an der Aktionskunst der Dadaisten orientierte. In etwa zeitgleich erfolgte eine ähnliche Entwicklung in der britischen Hauptstadt. Inspiriert von amerikanischen Außenseitern wie The Velvet Underground und The Stooges, aber auch von englischen Glam-Rock-Protagonisten wie David Bowie, T. Rex, Roxy Music und Slade konstituierte sich eine neue Generation von Musikern. DerDo-It-Yourself-Charakter, aber auch die vehemente Distanzierung vom ideologischen Love. Peace & Happiness der Hippies dienten als Antrieb dieser Gegenkultur. Die Vermittlerrolle zwischen der alten und neuen Ära übernahmen die New York Dolls, ein im grellen Transvestiten-Look ausstaffiertes Quintett mit Wurzeln im rauen Rhythm’n’Blues der Mid-Sixties, wie die Demos von „Personality Crisis“ und „Looking For A Kiss“ eindrucksvoll unterstreichen.

Sonderbare Poetry über stinkenden Müll, schlechte Pillen und beschissene Fließbandarbeit zu schlichten Riffs auf geliehenem oder geklautem Equipment ergaben urplötzlich Sinn. Beinhalteten das, was man im aufgeblasenen wie schwerfällig gewordenen Stadienrock von weltfremden Millionären im Elfenbeinturm vermisste: Spontaneität und Realitätsbezogenheit. In der Bowery auf der LowerEastside, zwischen Fusel schnorrenden Pennern und Junkies, die sich in ihrer eigenen Kotze suhlen, fanden Künstlerkreaturen der Nacht in Hilly Kristals CBGB’s ein Zuhause. Hier erhielten nicht nur Einheimische wie die Gossenpoetin Patti Smith, das rüde Elektronik-Duo Suicide, Television-Ableger Richard Hell &. The Voidoids und Johnny Thunders & The Heartbreakers erste Auftrittsmöglichkeiten, sondern auch die Zugereisten Velvet-Fanatiker Modern Lovers und die Nonkonformisten Pere Ubu. Der Ursprung des Wörtchens „Punk“ ist mittlerweile sogar wissenschaftlich belegt: Zu Shakespeares Zeiten bezeichnete es Prostituierte. Im 19. Jahrhundert bedeutete „Punk“ in der Sprache der Strafgefangenen die Vergewaltigung eines Insassen durch andere Inhaftierte. Patti Smiths Gitarrist und „Village Voice“-Autor Lenny Kaye schließlich benutzte den Begriff als Genrebezeichnung im Klappentext seiner Sixties-Garage-Kompilanon Nuggets.

Den kommerziellen Stein ins Rollen brachte Malcolm McLaren, letzter Manager der New York Dolls. Während seines mehrmonatigen Aufenthalts in New York traf er auf Straßendichter Richard Hell – mit selbst entworfener Stachelfrisur, zerissenen Second-Hand-Klamotten und nur rudimentär entwickeltem Musiktalent war er der Prototyp der neuen Richtung. Den Trash-Look importierte der Brite nach London. Dort betrieb er gemeinsam mit seiner damaligen Freundin, der Designerin Vivienne Westwood, auf der Kings Road eine Trend-Boutique namens „SEX“ . Ein junger Arbeitloser mit schlechten Zähnen half öfters als Verkäufer aus. Sein Name: John Lydon alias Johnny Rotten. Die von Malcolm McLaren formierten Sex Pistols, auf der zweiten CD der Box immerhin mit vier Work-In-Progress-Tracks ihres Debüts NEVER MIND THE BOLLOCKS und der Original EMI-Version von „Anarchy In The UK“ vertreten, gaben 1976 mit tumultartigen Krawall-Konzerten und turbulenten TV-Auftritten den Startschuss der Brit-Punk-Szene.

Überall in Großbritannien schossen Punk-Bands wie giftige Pilze aus dem Boden, lehrte die junge Bewegung die Musikindustrie mit Skandalen und der Independent-Label-Philosophie das Fürchten. Vor allem in London, wo vom Drei-Akkorde-Pop der Damned über den Psycho-Punk der Adverts bis hin zum linken Anarcho-Punk der Lurkers und Stiff Little Fingers sich die unterschiedlichsten Stilvarianten entwickelten. Zahllose Eintagsfliegen wie The Avengers, The Weirdos, Essential Logic, The Prefects, Mediators, Devils‘ Dykes, Rudi, Dave Goodman & Friends und Victim standen fürnicht einmal 15 Minuten im Rampenlicht und hinterließen doch ihre Spuren.

Das jahrelang erfolglose Rock-Kabarett Alberto Y Lost Trio Paranoias passte plötzlich ebenso ins Muster wie der zündende Power-Pop von The Only Ones. Die krude Psychedelic-Hommage von Alternative TV – immerhin gab Gründer Mark Perry auch das Fanzine „Sniffin‘ Glue“ heraus – fand ebenso Gehör wie die rabiaten Lamentos des Buskers Wreckless Eric. Wire orientierten sich am Experiment, das dilettantische Girl-Trio The Slits begeisterte sich für Dub-Reggae, und X-Ray-Spex beschwörten in „Oh Bondage Up Yours“ die Freuden von SM-Fessel-Sex. Mark E. Smith aus Manchester, bis heute Kultfigur des unangepassten Außenseitertums, legte mit The Fall den Grundstein einer langlebigen Karriere. Die nordirischen The Undertones dominierten die Szene eine Saison lang mit juvenilem Pop-Punk. The Ruts schließlich, durch den Herointod ihres Frontmannes Malcolm Owen allzu früh unter die Räder geratene Pioniere der zweiten Generation, verpassen der kompetent kompilierten Werkschau drei Dekaden später den Titel mit ihrer Turbo-Mega-Hvmne Babylon’s Burning.

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