Die Ärzte :: Devil
Deviane Formen geschlechtlicher Befriedigung! Sozialethische Desorientierung!
Große Popsongs. Jetzt endlich auch für Jugendliche! Das sage – Pisa hin oder her – noch einer, die deutschen Kids hätten nichts auf dem Kasten. Lange haben sie ja gebraucht, die kleinen Dummerchen, doch im November 2004 endlich sah die gute Mutti Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien den Reifeprozeß abgeschlossen und konstatierte, es sei „heutigen Jugendlichen aufgrund deren Medienerfahrung“ doch tatsächlich zuzutrauen, die Texte auf dem Debütalbum der Ärzte „ohne Schwierigkeiten als Fiktion einordnen“ zu können. 18 Jahre lang mußten sie beschützt werden, vor Liedern, die der BPJS „geeignet“ schienen. „Kinder und Jugendliche soziolethisch zu desorientieren“ und die auf „deviante Formen geschlechtlicher Befriedigung hinwiesen. Namentlich: die berüchtigte „Claudia“ mit ihrem Schäferhund lund man kann von diesem epochal kruden Pennäler-Spaß ja halten, was man will, aber „lesbisch“ auf „Entisch“ zu reimen, ist einfach ziemlich uneinholbarweit vorn! und die lustvoll grelle Georg-Kreisler-für-Pubertierende-Abgründigkeit „Schlaflied“, mit famosem Don-Kosaken-Chor. Es fällt schwer, sich die von diesen beiden Liedern seelisch zerrütteten Kindlein vorzustellen, aber es muß sie wohl gegeben haben – wie sonst wäre es beinahe zwei Jahrzehnte lang zu rechtfertigen gewesen, Jugendlichen unter 18 den legalen Erwerb dieses veritablen Diadems von Pop-Perlen zu verwehren? Ja, Pop, kein Funpunk, Herrgott. Debil hausiert nicht mit Zerrgitarren, Gegröl und Attitüden, sondern kredenzt feinen Twang, unvernichtbare Ohrwürmer, Charme, einen viel feineren Humor, als ihn die Band wohl freiwillig einräumen würde und, ja: Poesie. Oder hat in der jüngeren deutschen Popmusik jemand recht viel treffender Teenagerherzschmerz formuliert als Beta B. in „Mr. Sexpistols“: „Eine Träne rinnt mir über das Gesicht /doch über die Aknepickel kommt sie nicht/Diese Träne ist so hilflos wie ich /so hilflos, so hilflos…“ Ganz abgesehen davon sind hier „El Cattivo“, „Mädchen“, „Paul“ und „Kamelralley“ drauf, und einer der größten deutschsprachigen Songs ever, das ewigliche „Zu spät“. Every home should have one. Spätzünder und Neueinsteiger haben ihre Chance, sich einem Klassiker anzunähern, jetzt mit dieser schön pappverpackten [und rätselhafterweise in Devil umbenannten] Wiederveröffentlichung. Alte Fans mögen wegen der fünf Bonustracks Idas hochbizarre „Füße vom Tisch“ war bislang noch unveröffentlicht) und zwei Videos („Teddybär“ mit Live-Schnipseln aus dem Ärzte-Pleistozän circa 1983) noch einmal zugreifen. Müssen aber beileibe nicht. Wer das Originalalbum hat, hat, was er braucht.
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