Der Stadtspaziergänger und seine Gedanken :: Open City

von Teju Cole

Ein Buch wie ein Fluss: Teju Cole fängt in warmen Worten das Leben des Post-9/11-New-Yorks ein.

Wenn „Open City“ nach 330 Seiten endet, möchte man das nicht. Man will weiterlesen, man will sich fallen- und treibenlassen in diesem Flow aus Gegenwart und Vergangenheit, will stöbern in diesem Zettelkasten, der wohlsortiert in so vielen Geisteswissenschaften und doch dezidiert gegenwärtig ist. Gegenwärtig, weil die Geschichte in einer sehr prägnanten Zeit angesiedelt ist. Julius, der Sohn einer Deutschen und eines Nigerianers und Nervenarzt an einem New Yorker Krankenhaus, lebt im New York der frühen Nullerjahre. Einer Stadt, die noch gelähmt ist von den Anschlägen des 11. September 2001, aber langsam eine neue Selbstverständlichkeit entwickelt. Etwas weniger als ein Jahr seines Lebens deckt der Roman ab und verrät doch eine ganze Menge, weil auf gleich zwei Arten nach der Vergangenheit gesucht wird. Einmal, wenn der Protagonist nach Brüssel reist, wo er seine Großmutter vermutet, letztendlich aber sechs Wochen lang ziellos durch den Dauerregen irrt. Vor allem aber durch vielschichtige Erinnerungen aus dem Früher, die oft unvermittelt anklingen. Die Jahre als Teenager in einer Militärschule in Nigeria. Die köstliche, aber verbotene Flasche Cola im Elternhaus. Eine kürzlich gescheiterte Beziehung. Freundschaften, die zerbrachen. Cole konstruiert so einen facettenreichen Protagonisten, dessen Begegnungen mit den Mitmenschen er ebenso viel Platz einräumt wie seinen Gedanken zur eigenen Identität als Schwarzer, die oft mit langen Spaziergängen durch die Stadt verknüpft sind. Ganz nebenher ist viel von klassischer Musik die Rede, von Henry Purcell und Johann Sebastian Bach, aber auch von Sigmund Freud, dem französischen Literaturtheoretiker Roland Barthes, von Malcolm X und Allah, dem ungarischen Fotografen Martin Munkácsi oder dem ägyptischen Heliopolis. Haben wir von einem Zettelkasten geredet? Ach, Unsinn. „Open City“ ist nicht weniger als eine Schatztruhe. Jochen Overbeck

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