Deerhunter
Why Hasn’t Everything Already Disappeared?
4AD/Beggars/Indigo (VÖ: 18.1.)
Ein mächtiges, anmutiges Gitarren- und Geisteralbum über das Verschwinden.
Bevor Jean Baudrillard im Jahr 2007 starb, widmete er dem Wesen des Zerfalls seinen letzten Text. „Warum ist nicht schon alles verschwunden?“, lautete die finale Frage des französischen Philosophen; dann verschwand er selbst.
Gut zehn Jahre später ging die Band Deerhunter in die texanische Wüste, um eine Platte über die in Auflösung begriffene Gegenwart, über das Verschwinden von Natur und Kultur aufzunehmen. Man könnte nun vermuten, das von der Songwriterin Cate Le Bon produzierte WHY HASN’T EVERYTHING ALREADY DISAPPEARED? sei ein zivilisationskritisches Höret-die-Signale-Album geworden, ein Pendant zu Baudrillards fatalistischem Spätwerk – würde nicht diese mächtige, anmutige Gitarren- und Geistermusik davon erzählen, wie sich im Moment des Verfalls die Menschlichkeit aufbäumt.
AmazonUnd die Schönheit ebenso, zum Beispiel, wenn in der grazilen Single „Element“, die Sänger und Songschreiber Bradford Cox als „elegy for ecology“ bezeichnet, die Gitarre perlt wie in einem schüchternen Latin-Stück. Lieder wie „No One’s Sleeping“ mit seinen Bläsern und verhallten Surfgitarren, das Cyborg-Lamento „Détournement“ und das erhabene, von Cembaloklingeln und wuchtigem Schlagzeug geprägte „Death In Midsummer“ reißen die Zeitfenster weit auf, lassen das Gestern im Heute aufscheinen wie das Testbild auf einem verstaubten Röhrenfernseher. Und fassen in Sound, was schwer begreifbar scheint: dass es eine Welt ohne uns gab und geben wird.