Das Buch des Vaters

Es ist leider viel zu wenig bekannt, was für ein mordsfetziger, affenscharfer Schreiber der Schweizer Urs Widmer ist – in seinen Romanen herrscht bisweilen ein solches Gerase, ein derartig stupender Übermut, ein Feuerwerk grotesker Ideen und skurriler Gestalten, dass sich dagegen das ganze Pop-Zeugs der letzten 20 Jahre wie Erstsemesterkommentare zum Bürgerlichen Gesetzbuch liest und ihre Vertonung wahrscheinlich selbst ein Ensemble aus Zappa/Beefheart, den LSD-Beatles. Blur. Flying Luttenbachers und Toy Dolls höchstens ansatzweise hinbekäme. Auch hier rennen wieder dickköpfige Eigentümler – schroff-kantige Gestalten, die man zerdrücken möchte, weil sie so sympathisch sind – durch eine seltsame, comicartige Welt, in deren hyperrealen Blasen sich die Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts gestochen scharf spiegelt. Aber Widmer ist nicht nur ein blendender Spinner mit überschäumender Phantasie [geübte Widmer-Leser meinen bisweilen, regelrecht sehen zu können, wie er auf seine Schreibmaschine eindrischt, dass sich der Tisch biegt und Kaffeetassen und Bierflaschen durch die Gegend hüpfen], sondern auch ein meisterhafter, streckenweise genialer Erzähler, der mit fast jedem Buch ein Stück besser wird. Die Geschichte seines Vaters (vorausgegangen war vor vier Jahren „Der Geliebte der Mutter“] ist ein mitreißendes Jahrhundertabenteuer [das die Hauptperson, Widmer-typisch, größtenteils am Schreibtisch verbringt]. Sie ist eine strahlend schöne, zu Tränen rührende Lebens- sowie bloß federleicht angedeutete, dennoch ergreifende unerfüllte Liebesgeschichte und ein Wolkengebirge von Lebenslust und Erzählwut, das sich über den realen Vorgängen zwischen Nachwirren des Ersten Weltkriegs, Nazi-Faschismus im Nachbarland, Begeisterung für Kommunismus und französische Literatur [der Autodidakt Walter Widmer war tatsächlich einer ihrer größten Übersetzer] auftürmt. Nur ganz am Rande sei erwähnt, dass Widmer-Kenner die gewohnte Nabokov-Anspielung (auf „Erinnerung, sprich] diesmal auf Seite 121 finden (und was für eine schöne …).