DAS ARCHIV – Rewind 2003: Radiohead
Hail To The Thief
EMI 10.6.2003
Der Ausdruck mag lange zum Schimpfwort verkommen sein, aber das hier ist Artrock. Artrock mit einer dunklen Seele, die keinen leeren Selbstzweck duldet, in der jeder Ton und jeder Beat etwas will und etwas kann.
Selbstvertrauen, auch so ein alter Affe. Wer viel davon hat, kann Großes schaffen, läuft aber auch Gefahr, mit all seinen Stärken grandios, eventuell interessant zu scheitern. Wer seines verloren hat, wird auch seinen alten Stärken nicht mehr trauen – viel wundervolle Kunst verdanken wir der Suche nach neuen. Radiohead haben in einer Phase abgründigster Selbstzerfleischung zwei Platten gemacht, die in ihrer enigmatischen, unkompromittierten Schönheit zu den faszinierendsten des jungen Jahrtausends zählen. Jetzt sind sie aus dem langen, dunklen Tunnel ihrer Suche heraus, mit einem ganzen Kofferraum voll alter und neuer Stärken – und dem Selbstvertrauen, sie auszuspielen.
Es ist natürlich nicht die lang verflüsterte Gitarrenrock-Platte geworden, wo kämen wir hin mit solch plumpen Kategorien. Hail To The Thief, aufgenommen in einem selbstauferlegten Limit von achteinhalb Wochen Studiozeit (die Sessions für Kid A und Amnesiac verzettelten sich über -zig Monate), ist die Verdichtung von allem, was Radiohead großartig macht. Es ist ihr politischstes (auch wenn Thom Yorke die Intention abstreitet) Album und ihr breitestbandiges, mit Echos von den gitarrengleißenden Gipfeln von Ok Computer bis hin zu den klaustrophobischen Schaltkreis-Labyrinthen von Kid A, gern in ein und demselben Song. Ein Kaleidoskop, in dem Westcoast-Gitarren und abstraktes Relais-Frizzeln, Piano-Elegie und Synthflächen, mächtige Rock-Wälle („2+ 2=5“, „There There“) und kammermusikalische Nischen („I Will“) nebeneinander, ineinander stehen, Momente sakraler Schönheit verschmelzen mit sich glorios entladenden Spannungssequenzen (einer von 1000 mindblows: „Sit Down. Stand Up“, 3:O4ff, the raindrops!). Es ist kein leichtfüßiges Album – dafür bürgt die blanke Intensität von Songs wie dem paranoiden Mantra „The Gloaming“, dem panischen „Myxomatosis“ oder dem schwarzhumorig überzogenen Grabgesang „We Suck Young Blood“ (feat. Yorke als corporate Nosferatu, eines der unglaublichsten Stücke hier). Bemerkenswert ist aber auch, was für polyrhythmisch zuckende, schier tanzbare Züge dieses Biest hat – man höre „Backdrifts“ und „Where I End And You Begin“ und schüttle die Glieder.
Der Ausdruck mag lange zum Schimpfwort verkommen sein, aber das hier ist Artrock. Artrock mit einer dunklen Seele, die keinen leeren Selbstzweck duldet, in der jeder Ton und jeder Beat etwas will und etwas kann. Es wimmelt von Myriaden monströser bis mikrobischer Hooks melodischer, harmonischer, rhythmischer, atmosphärischer, emotionaler Art, kostbarer oder schlicht arschtretender Momente, die vor Wiederhörensfreude besoffen machen können, einen irgendwann förmlich durchreißen durch die makellose Abfolge dieser 13 Songs. Bei allem Herumgeschiebe mit dem großen Wort Kunst: Hail To The Thief ist zunächst einmal das Album einer Band mit grenzenloser Musikalität.
Speziell ist es das Album von Thom Yorke, strahlend dem Kid A/Amnesiac-Kokon entstiegen. Mit seinen umfangreichsten Texten seit The Bends, expressiv, angstvoll, trotzig, zornig, strotzend vor kraftvoller Metaphorik. Und – vor allem anderen – mit seiner Stimme, dem Klang, der Hail To the Thief zusammenhält, nicht mehr begraben von Verzerrern und Zerhackern, sondern präsent, das Zentrum, die Seele von allem. Ob nackt und fragil, mit schaumigem Mund bebend (wie im Morriconeesk-dramatischen Abschluss „A Wolf At The Door“) oder vielstimmig verdichtet in irisierenden Chorälen („I Will“; das Intro zu ,“A Punch-Up At A Wedding“; tausend andere Orte): kein Sänger wie Thom Yorke in dieser Zeit, weit und breit, nirgendwo. Und keine Band wie Radiohead. Sie haben es tatsächlich wieder getan. Man möchte ihnen Liebesbriefe dafür schreiben. VÖ-. 10.6.