BUCH
MAGICAL MYSTERY ODER: DIE RÜCKKEHR DES KARL SCHMIDT
von Sven Regener
Selbst eine Technolabel-Deutschlandtour in den Neunzigern bestand vor allem aus ganz alltäglichem Wahnsinn.
Es war auf Seite 286 von „Herr Lehmann“, Sven Regeners erstem Roman, da musste Frank Lehmann seinen besten Freund im Berliner Urban-Krankenhaus zurücklassen. Denn Karl Schmidt, Künstler und Kneipenthekenkraft, war verrückt geworden und brauchte Hilfe. Regeners viertes Buch aus dem Lehmann-Universum holt Karl nun, fünf Jahre später, zurück ins Leben. Die „Klapper“ durfte er inzwischen verlassen, seine Hamburger Drogen-WG Clean Cut 1 kann er aber auch nicht mehr ertragen, in seinem Job als Mädchen für alles im Kinderkurheim Elbauen bringt ein neuer Hausmeister alles durcheinander. Da wird das absurde Angebot, das er von seinem alten Berliner Bekannten Raimund erhalten hat, tatsächlich interessant: Der Zwangsabstinenzler Karl soll die Deutschland-Tour von Raimunds Technolabel leiten -als Fahrer und Fels in der Brandung. Karl springt tatsächlich auf. Die folgende wilde Sause von Kellerclub zu Bauerndisco, von Hofb räuhaus über Äppelwoi-Kneipe bis hin zum Essener Riesenhallenrave bietet dem Autor unzählige Möglichkeiten, seine Stärke auszufahren: Regeners Protagonisten, DJ-Nachwuchs und alte Label-Hasen, quasseln sich mindestens so verstrahlt wie erleuchtet um Kopf und Kragen. Und sie purzeln mit ihren komischen Namen und Projekten, euphorisch und verkatert, derart lustig durcheinander, dass es dieses Buch stellenweise zum Schenkelklopfer macht. Regener hält sich weiterhin nicht groß auf mit fein beschriebenen Details und Charakterzeichnungen, er lässt seine Leute einfach machen, reden, leben und Ich-Erzähler Karl seine nach wenigstens etwas Vernunft und Licht dürstenden Schlüsse ziehen in all dem Wahnsinn. Die Beiläufigkeit, mit der der Element-Of-Crime-Sänger das alles erzählt, sorgt erst recht dafür, dass einem diese ganze Bande sofort ans Herz wächst. Nach über 500 Seiten möchte man einfach sitzenbleiben in ihrem Mercedes-Van und rufen: „Kommt, wir touren weiter!“
***** Oliver Götz
DAS GESCHÄFT MIT DER MUSIK. EIN INSIDERBERICHT
von Berthold Seliger
Alles, was Sie über den Ausverkauf der Kultur ahnten, kundig zusammengefasst.
Man tut dem Konzertveranstalter Berthold Seliger sicher nicht Unrecht, wenn man ihn als einen von der alten Schule bezeichnet. Gleich in der Einleitung zu seinem Buch kommt er mit den Kulturindustrie-Thesen Adornos, zum Abschluss fordert er mit Brecht, dass Kultur dazu beitragen solle, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer sei. Dazwischen formuliert Seliger mit großer Verve, ausdauernder Empörungskraft und reichlich Beispielmunition, wie die Musik zum bloßen Unterhaltungsgeschäft wird. In der Rolle der Missetäter finden sich nach Monopolen strebende Unterhaltungsunternehmen, die raffgierige Gema und Musiker, die ihre Integrität für ein paar Sponsoringpenunzen verkaufen. In dieser Ballung machen Seligers Vorwürfe doch ziemlich wütend – oder melancholisch. Zu den prägenden Künstlern seiner Konzertagentur zählen Calexico, Lambchop oder Pere Ubu. Doch Seliger trauert nicht, sieht in der Digitalisierung hoffnungsvolle Ansätze zu einem entschleunigten Umgang mit Musik. Und er ruft zum Widerstand auf – Stellen, an denen man etwas ändern könnte, zeigt er etliche.
**** Felix Bayer
DAVID BOWIE
herausgegeben vom Victoria & Albert Museum
Der Katalog zur Ausstellung zum Comeback funktioniert auch für sich genommen.
Selbst in den Jahren, in denen David Bowie für die Öffentlichkeit verstummt war, herrschte kein Mangel an Bowie-Büchern und Bowie-Hommagen. Doch die Präsentation im Londoner Victoria & Albert Museum, der weltweit führenden Design-Ausstellungsinstitution, war ein Gipfel der Popstar-Verehrung, der nur noch durch ein Comeback des Meisters selbst hätte getoppt werden können – und, wie wir wissen, kam es genau so. Nun, da die Ausstellung geschlossen ist und bald auf Welttournee geht (bisher noch ohne Deutschland-Termin), bleibt der Katalog mit Bühnenkostümen, Video-Storyboards und Textzetteln. Er hat aber auch seinen eigenen Wert. So vergleicht die Sexualhistorikerin Camille Paglia Bowie mit Oscar Wilde, beide benützten „Sex als Medium zur Schärfung des Selbstbewusstseins, nicht zu dessen dionysischer Vernichtung“. Jon Savage rekonstruiert ein Interview Bowies mit William S. Burroughs als Wendepunkt seiner Karriere. Und der Kunstprofessor Christopher Breward analysiert die Plattencover „als Sinnbild von Sehnsüchten und als Zeichen der Zusammengehörigkeit unter den Fans“. Lohnend.
***** Felix Bayer
VORLÄUFIGE CHRONIK DES HIMMELS ÜBER PILDAU
von Max Scharnigg
Die Provinz als Gegenwelt: Max Scharnigg siedelt seinen zweiten Roman in wundersamer Gegend an.
„In der Einöde ist man für alle Nachrichten selbst verantwortlich“, schreibt Max Scharnigg einmal, und das ist natürlich ein ganz wunderbarer Satz, einfach weil er heute nicht mehr stimmt. Vielleicht stimmte er niemals, im Falle dieses Buchs greift er auf jeden Fall. Scharnigg schildert in seinem zweiten Roman, ausgehend vom kleinen Jasper Honigbrod, die Geschichte einer Sippe. Eher ein Sippchen, aber dennoch eines, das sich über drei, vier Generationen erstreckt, zwei Kriege erlebt und die Moderne und dabei verblüffend großen Einfluss auf das Weltgeschehen hat. Der ganz große Reiz liegt darin, dass der Autor alles ein paar Zentimeter neben der Spur laufen lässt. Er verhandelt die großen Themen, natürlich auch die Liebe. Aber weder er noch seine Protagonisten nehmen dabei über Gebühr Rücksicht auf irgendwelche Realitäten, beziehungsweise: Die Realitäten werden aus einer fast kindlich erscheinenden Perspektive erzählt, was allerhand Grausamkeiten abfedert und so ganz nebenbei das Konstrukt Familie aufregend neu definiert. Dieses Buch möchte man beim Aufwachen vorgelesen bekommen.
***** Jochen Overbeck
JAGE ZWEI TIGER
von Helene Hegemann
Buch eins nach dem Hype und der Plagiatsdebatte ist souverän, als wäre nix gewesen.
Der erste Held im zweiten Roman von Helene Hegemann heißt Kai und ist elf, als seine Mutter stirbt und gehört damit „zu der Gruppe ins kalte Wasser geschmissener Kinder, deren Abenteuer ganze Fantasytrilogien füllen“. Nach fünf Kapiteln dann Auftritt „Cecile (siebzehn Jahre alt, schweißtreibende Gewaltfantasien, neue Protagonistin)“. Sie haut bei ihren reichen Eltern ab, und beginnt eine Odyssee mit Stationen wie Worms und Venedig. Zum Schluss haben Kai und Cecile ein gemeinsames Ziel, aber die Handlung ist nicht so arg wichtig in diesem Buch, die Sprache ist es, genauer gesagt: wie die Sätze so da stehen, mit ihren Bezügen zu Pop- und Hoch- und Alltagskultur und ihrem ganz eigenen Rhythmus. Ein Kapitel lang wird als Marotte alles „bis zum Getno“ gesteigert, und danach kommt die Formulierung nie wieder. Es ist schön zu sehen, wie wenig sich Hegemann offenbar von der Aufregung um ihr Debüt hat verunsichern lassen. Selbstbewusst, originell und oft sehr lustig erzählt sie von ihren jungen, schlauen, verwirrten Protagonisten. Einen Quellennachweis gibt es diesmal von vornherein – aber da stehen fast nur Popsongs drin.
***** Felix Bayer
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