Arcade Fire
Funeral
Orchestraler Pop: Katharsis jetzt! Oder: ein Angebot von Nachbarschaftshilfe, das der Rock'n'Roll kaum kennt.
Erste Worte: „And if the snow buries my, my neighborhood / and if my parents are crying then I’ll dig a tunnel from my window to yours/yeah a tunnel from my window to yours“. Und dann klettert das Mädchen aus dem Schornstein und trifft den Jungen im Zentrum einer Stadt, die keine Menschen mehr hat, sie lassen ihre Haare wachsen und vergessen, was je gewesen ist. Die Geschichte einer Weltengründung aus dem kalten Nichts, wären da nicht die Erinnerungen an all die, die schon gegangen sind. Die Band aus dem kanadischen Montreal erklärt sich im Faltblatt zur Musik: Der Titel FUNERAL entstand während der Aufnahmen, als mehrere Familienmitglieder der Musiker starben. Diesen ist nun die CD gewidmet, die Bandmitglieder haben ihre Unterschriften dafür gegeben. „Love, The Arcade Fire“.
Das Getrommel war verdächtig groß, als FUNERAL im vergangenen Jahr in den USA und Kanada erschien, Arcade Fire lockten einen Verein älterer Staatsleute des Pop (von David Bowie bis David Byrne) zur Vorführung in den New Yorker Bowery Ballroom. Wir wissen nicht, was sie dort gesehen und gehört haben, den Live-Shows der Band eilt der Ruf von ekstatischen Veranstaltungen voraus, auf Platte haben sie ein rauschendes Fest für Orchesterpop bereitet, in das ganz verstreut die Texturen der Musiken eingearbeitet sind, die durch ihre Köpfe ziehen, ohne daß sie sie benennen könnten und wollten. Im Zentrum der Band stehen Win Butler, Ex-Theologie-Student, Sänger, Gitarrist und Pianist, und Regine Chassagne, Ex-Jazz-Vokalistin, Organistin in ihrer Kirchengemeinde und lange Zeit verantwortlich für die Mandoline in einem Ensemble für mittelalterliche Musik – seit August letzten Jahres miteinander verheiratet. Es gibt Sozialisationen, die näher am Rock gebaut sind, aber Background und private Beziehungen verraten schon ein wenig von dem besonderen Bund, den Arcade Fire geschlossen haben.
Von der Idee einer familiären Gemeinschaft, die sich in der langen Liste der Beitragenden spiegelt (mit Win Butlers Bruder Will am Baß, mit all den Violinisten, Cellisten und Glockenspielartisten, Harfenisten, Perkussionisten, guten Geistern und Geisterinnen) und bis in die Texte und cinematographischen Momente reicht, FUNERAL ist eine Platte über den Tod, über die Geburt und das Zusammensein, über Verzweiflung, Schuld, Abschied und Neuanfang, eine Sendung von kathartischem Ursprung, ein Panoramagemälde der Homelands, aus denen die Band operiert, über die sie Geschichten erzählt, die in Traumspiralen drehen. Ausgerollt in der vierteiligen Songfolge „Neighborhood“. Wiederzufinden in den Verästelungen eines Fahrt aufnehmenden Walzers, der keine Angst vor Herz und Schmerz kennt („Crown Of Love“). Man möchte Win Butler mit einem Taschentuch winken, wenn er die Blumen auf dem Grab der alten Liebe besingt.
Die Songs mäandern wuchtig und weich zugleich zwischen den Extremen: Vom Clap-Hands-Pop mit cheesy Vokalpart zur epischen Hymne an prachtvoller Piano-Mousse. Das fünfminütige „Wake Up“ im hinteren Drittel des Albums reiht sich wie ein Sammelstück in die große Gefühlsverführung, ein Broadway-Potpourri, das zufällig in die Hände von ein paar Indie-Rockern geraten ist, die gleich einen Schwung Chorknaben mit ins Studio bestellt haben.
Dann gibt es das Lied vom Bruder, den die Vampire erwischt haben, das mit einem Tanz in den Polizeidiscolichtern endet. Die Ode an die Heimat „Haiti“, in der Regine Chassagne das Grauen in Worte malt, das unter der Diktatur von Duvalier herrschte und ihre eigene Familie in den 6oer Jahren in die Flucht trieb. Die Stimmen von Butler (wie David Byrne aus dem Autoradio) und Chassagne (sentimental, suchend) scheinen aus einer fernen Zeit zu kommen und manchmal einfach stehenzubleiben, die Gitarren und die Violinen aber stürmen davon, wohin gerade auch immer. Es gibt eine Zukunft, sie beginnt im Moment des Verlusts. „In The Backseat“ – Regine Chassagne singt über den Tod ihrer Mutter: Aus dem Rücksitz im Auto ein Blick aufs Land, nicht sprechen, nicht fahren müssen. Letzte Worte. „My whole life I’ve been learning/Oh, Norah!“