Reeperbahn-Festival: der Bericht


Das Reeperbahnfestival führt vom Hochbunker zur Großen Freiheit und von Australien nach Wien. Ein fast ganz normales Wochenende auf der Reeperbahn. Von Konzerten, Hornbrillenträgern und einem verlorenen Fußballspiel

Lena Ackermann berichtet vom Reeperbahn-Festival, das vom 22. bis 24. September in Hamburg gefeiert wurde:

Freitag: 17.00 Uhr – Schmidt Theater: Ray Cokes Reeperbahn Revue. Das Schmidt Theater ist angenehmerweise nicht ganz voll. Die Show wird vom NDR live im Internet übertragen, jeden Tag stellt Ray Cokes hier Bands vor, die später beim Festival auftreten werden. Im Publikum ist die Stimmung gut. Solange bis The Boney King of Nowhere auftritt und zwei dramatisch langweilige Songs zum besten gibt. Verhaltener Applaus. Der dürre Belgier wirkt wie eine schlechte Kopie von The Tallest Man on Earth. Im Interview gibt er den trotzigen Teenager. Seinen Auftritt in der Pooca Bar kann man sich getrost sparen. Dafür macht das Akustik-Set von The Eastern Conference Champions Lust auf mehr. Auf Ray Cokes Couch trinken sie Champions Gin Tonic und witzeln. Solange macht EMA im Künstlerbereich Streckübungen. Sie singt ihren Song Marked für den Papst und hofft, dass keiner damit ein Problem hat. The Jezables spielen doch nicht. Sängerin Hayley Mary muss ihre Stimme schonen. Dafür sitzen Heather Shannon und Nik Kaloper auf Cokes Couch, plaudern und trinken Gin Tonic.

18.00 Uhr – West Stage: Auf dem Spielbudenplatz ist es noch recht leer. Ein paar sechzehnjährige Mädchen mit Pferdeschwänzen scharen sich vor der Bühne.

Tim Knol ist ein dickliches Bübchen mit Engelsstimme. Man muss sofort an Keane denken. Knol könnte Tom Chaplins jüngerer Bruder sein. Auf den Band T-Shirts, die auf der Bühne hängen, steht: Tim Knoll ist Fett. Humor hat er also, das spricht für ihn. Und je länger man zuhört, desto besser gefällt sein Pop. Aber wer ist blos auf die Idee gekommen das Knol nach Ryan Adams und Wilco klingen soll?

20.00 Uhr -Übel & Gefährlich: Das Millerntor-Stadion ist voll. Es steht 1:2 gegen Pauli und die Fangesänge sind laut. Der Weg zum Hochbunker ist frei. Drei Britpop-Jungs rauchen vor dem Eingang ihre Zigaretten zuende. Sie tragen keine Jacken, damit man die gebügelten Hemden bewundern kann. Im Gegenteil zur Stimmung am Millerntor geht es im Im Übel und Gefährlich gesittet zu.

Das vorwiegend ältere Publikum freut sich auf Warren Suicide – sie eröffnen zusammen mit Apparat den Abend im Bunker. „We declare Warren Peace“ singt PC Christensen alias nackt. Das Publikum nickt anerkennend. Das „Elektro-Klassik-Avantgarde-Indie“ Programm hält, was es verspricht. Patricia Peters Kleid, die Herren an Kontrabass und Geige, die Visuals – alles ist wunderbar. Schade, dass nach nur 40 Minuten Schluss ist. Hier hätte man viel länger zuhören können.

20:30 Uhr – Café Keese: Vor dem Stadion brennen Sträucher und ein Baum. Die Feuerwehr muss kommen. Auf dem Bürgersteig sitzt ein weinender Pauli-Anhänger. 3:1 hat die Mannschaft verloren. Vor dem Café Miller trinken sich die Pauli Fans den Schmerz weg. Im Café Keese brauchen die Musikbegeisterten Ohropax.

Es ist laut, When Saints go Machine machen ihrem Namen alle Ehre. Sänger Nicolaj Vonsild sieht aus wie ein Engel und singt auch so. Was dazu aus den Boxen dröhnt fühlt sich tatsächlich an wie eine riesige Maschine. Bei den Saints dreht sich alles ausschließlich um Musik. Es gibt keine Bühnenoptik und die Dänen stecken in ausgebeulten, verwaschenen Klamotten. Das kann man vom Publikum nicht behaupten. Die Endzwanziger sind top gestylt. Das Café Keese ist die richtige Location um das Abendoutfit durchzuchecken. Nirgendwo gibt es soviele Spiegel. Sogar in den Kabinen der Damentoilette. Da kann man sich ganz in Ruhe nochmal die Frisur sortieren oder den Liedstrich nachfahren.

21:50 Uhr – Knust: Auf der Ballustrade des Knust fällt auf, wie viele Hornbrillenträger es im Gedrängel gibt. Und alle wollen zu Cloud Control. Die Australier legen einen perfekten Auftritt hin. Heidi Lenffer sieht umwerfend aus. Sie trägt ein Jacket mit glitzerndem Kragen, enge schwarze Hosen und High Heels. Sie spielt Keyboard, singt und tanzt. Es gibt wohl keine Frau auf dem Festival, die ein Tamburin so sexy schlagen kann, wie sie. Der Rest der Band geht neben ihr etwas unter. Aber die Jungs geben sich mindestens genauso viel Mühe. Der Harmoniegesang klingt nach Hawaii und nach Sommer. Das Knust wippt beschwingt mit. Und dann zeigen Cloud Control, dass sie auch rocken können. „Seid  ihr gut drauf?“ fragt Heidi. Die Hornbrillenträger schwitzen, tanzen und jubeln ihr zu.

22:30 Uhr – Molotow Bar: Paper aus Schweden, werden im Programm als „tosender Nordsturm“ angepriesen. Die kleine Molotow Bar ist gerammelt voll. „We are Paper and we love you all“ begrüssen die Jungs ihr Publikum. Mit einem Sturm, geschweige den „ Wellen der Zerstörung“ hat das hier allerdings ganz und gar nichts zu tun. Der Funke will nicht überspringen, auch wenn Paper sich alle Mühe geben. In der ersten Reihe checken zwei bullige Mitdreissiger die Fotos auf ihren Digitalkameras. Ein Typ raucht verbotenerweise eine Zigarette. „Ey, das stört mich“ blafft das Mädchen hinter ihm. „Kannste das bitte draußen machen?“ Tja, Punk is dead. Zumindest hier und heute.

22:50 Uhr – Übel & Gefährlich: Um das Millerntorstadion herum ist es leer geworden. Ein Haufen Müll liegt auf dem Heiligengeistfeld. Dafür gibt es am Übel und Gefährlich die erste Schlange des Abends. Und hier ist dann endlich auch ein Sturm. Die Friendly Fires toben auf der Bühne und das Publikum tobt mit. Sänger Ed MacFarlanes Tanzstil ist überragend eigen. Nach einer Stunde ist der Mann völlig durchgeschwitzt, am Ende des Auftritts demolieren die Jungs eines der Schlagzeuge. Direkt und kompromisslos gerockter Indie-Pop. Friendly Fires haben alles gegeben und das Publikum dankts. So machen Konzerte Spaß.

23:55 Uhr – Übel & Gefährlich: The Jezables. Nun ja. Davon, dass Hayleys Stimme angeschlagen sein soll hört man nichts. Allerdings sind die Australier sehr pedantisch. Alle zwei Minuten muss der Rowdie etwas am Sound tüfteln. Mikro hoch, Mikro runter, wieder ein klitezkleines bisschen hoch. Dabei klingt alles soweit gut. Auch zwischen den Songs schraubt die Band am Sound. Das Finetuning kostet Zeit. Die Pausen zwischen den Stücken werden länger. Die Jezables verlieren kein Wort ans Publikum. Das kostet Stimmung. Alister Wright, von Cloud Control, steht am Bühnenrand und beobachtet die Kollegen. Die Songs der Jezables sind gut arrangiert aber überfrachtet. Insgesamt klingt es zu sehr nach Kate Bush. Man wünscht sich die Friendly Fires zurückt.

00:55 Uhr – Knust: Tapfer stützen sich die fünf Flannellhemdträger mit den Ellenbogen auf der Knuster Ballustrade ab. EMA – die einzige, die sich nicht umgezogen hat, seit ihrem Auftritt in Rays Reeperbahnrevue, ist für heute der letzte Act. EMA tut es leid, das Pauli verloren hat. Keine Reaktion. Das Grungemädchen kann die müden Männer im Publikum nicht mehr wirklich aufwecken. Obwohl sie einen guten Auftritt hinlegt. Der Festivaltag steckt allen in den Knochen. Der Jungs auf der Ballustrade reiben sich die Augen. Es ist Zeit zu gehen.

In einer Kneipe im Schanzenviertel sitzen die Jungs von Ja Panik. Sie rauchen und trinken sich warm. Sie sind erst morgen dran.

Samstag: Gegenüber dem Indra, ganz hinten auf der großen Freiheit, steht eine Besuchergruppe. Der Stadtführer erklärt, dass die Beatles auch hier ihren ersten Auftritt hatten. Dann packt er eine Gitarre aus und spielt mehr schlecht als recht „Love me do“. Die jungen Leute mit den Festivalbändchen gucken verstört auf die schunkelnden Touristen auf der anderen Straßenseite. Schnell verschwinden sie in den Laden.

20:00 Uhr – Indra. Es ist voll hier, vor allem draussen im Garten.

Darkness Falls eröffnen den Dänischen Abend. „Guck mal, Schulterpolster und Pailetten“ raunt ein Junge seiner Freundin ins Ohr. Zum Einstieg gibt’s wieder Harmoniegesag. Im Gegensatz zu Cloud Control ohne Text und schön dunkel. Schön. Der Junge und seine Freundin rücken ein bisschen enger zusammen. Zu verdanken hat man den melancholischen Sound von Darkness Falls dem dänischen Produzenten Trentemøller. Das Publikum ist begeistert von Josephine Phillips warmer, melancholischer Stimme. Darkness Falls sind ein perfekter Einstieg für den Abend. Vor der Tür steht wieder eine Besuchergruppe. Diesmal spielt eine Frau den Beatles Song.

Nebenan im Grünspan bietet sich bei Dear Reader das gewohnte Bild. Viele Menschen, solider Indie. Soweit, so gut.

20:50 Uhr – Molotow: Schnell ist der Keller rappelvoll. Auf der Bühne stehen die vier Jungs von Chuckamuck. Die Berliner sind jung, durchgefeiert und sie spielen sich die Seele aus dem Leib. Hier wird nicht gepost, krampfhaft auf Deichkind gemacht oder auf 80er. Die Jungs sind so echt wie der Schweiß, der von der Decke tropft. Sänger Oska Wald schreit heiser ins Mikrofon. Chuckamuck klingen nach Punk, nach Udo Lindenberg 2.0, Ton, Steine, Scherben und nach RocknRoll. Oska kündigt eine Ballade an. Der Song über den Laden um die Ecke, der immer auf hat, ist grandios. In diesem Text findet sich jeder wieder, deswegen grölen auch alle beim Refrain mit. Diejenigen, die vorne pogen, werden später in einer dieser, von Oska besungenen Küchen sitzen und sich noch eine Dose Ravioli teilen. Die älteren, die hinten stehen, lächeln beseelt und erinnern sich an früher. Durchgeschwitzt, mit leuchtenden Augen und einem dicken Grinsen verlassen alle das Molotow. Man kann nicht anders, als sich in die Jungs zu verlieben. Es lebe der Punk.

21:45 Uhr – Grünspan: Der Laden hat ein Soundproblem.

The Duke Spirit klingen nicht. Dafür können die Londoner nichts. Das Publikum steht, hört zu und klatscht wenn es muss. Der Typ, der genau vor den Boxen steht filmt alles mit seinem I-phone. Er zoomt rein und raus, dreht das Gerät, geht einen Schritt nach vorne und einen zurück. Es wird nichts helfen. Irgendwie fehlt das Gefühl. Sängerin Liela Moss freut sich endlich wieder zurück in Hamburg zu sein. Auch sie versucht es mit einem Tamburin, aber an Heidi von Cloud Control kommt sie nicht ran. So richtig in Fahrt kommt keiner. Der Mann mit dem I-Phone setzt sich. Draußen, auf der großen Freiheit drängeln sich die Jungesellenabschiede, Kegelvereine und auffällig viele junge Menschen die Audiolith T-Shirts tragen. Es wird immer schwieriger, sich einen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen.

22:30 Uhr – Knust. Das kleine Knust ist halbleer. Mimi steht verkrampft auf der Bühne. Sie bewegt sich keinen Zentimeter. Ja, singen kann sie. Aber die unabhängige Rockerin, die leidenschaftlich gerne und schon so lange Musik macht, die kauft man ihr nicht ab. Kein bisschen. Die Jungs ihrer Band sehen aus, als wäre sie in einem angesagten Club zusammengacastet worden. Der Bassist macht einen auf Heavy Metal. Er guckt ausschließlich auf den Boden und headbangt zu jedem Song, es ist peinlich. Mimi spricht englisch mit uns. Ob ihr das Auftreten Spaß macht? Augenscheinlich nicht. Kameras und Fotografen sind trotzdem da. Papa Marius und dem Playboy sei Dank.

23:30 Uhr – Grünspan. Hier herrscht immer noch das Soundproblem. Ja Panik trotzen der Technik und spielen routiniert ihr Set. Es ist längst nicht so voll wie erwartet. Ob die alle nebenan bei Frittenbude sind? Und ob jeder Sänger, der aus Wien kommt, automatisch diesen Falko Touch hat? Das Publikum bleibt während des Konzerts weithin unterkühlt. Amüsant ist Gitarrist Thomas Schleicher mit seinen Segelohren. Er läuft gelangweilt auf der Bühne auf und ab. Raucht und schreit, wenn er darf, seine Backrounds ins Mikro. Gegen Ende wird es an der Bar laut. Spechtel muss gegen das Publikum ansingen. Dabei kommt jetzt das, worauf es sich zu warten gelohnt hat. Ja Paniks Übersong: Never Mind. Jedes Bandmitglied singt seine Strophe. Schön. Danach kann man gehen.

Auf der Reeperbahn riecht es nach Erbrochenem, nach Bier und Urin. Die Lichter blinken. Prostituierte stolzieren auf und ab. Die ersten Punks haben sich auf ihren Matratzen zusammengerollt und schlafen. Die Mädels vom Jungesellinnenabschied essen ein Würstchen. Die Bühne auf dem Spielbudenplatz ist leer.

Im Schanzenviertel sitzen Ja Panik mit Freunden in der Kneipe, rauchen und trinken mehrere Feierabendbiere. Das Reeperbahnfestival wäre geschafft.