Reeperbahn Festival 2021: Das Musikbusiness und die mentale Gesundheit
MUSIKEXPRESS berichtet vom Panel „Black Box Mental Health | Für deutliche mehr mentales Wohlbefinden“ auf dem Reeperbahn Festival 2021
„Dieser Job kann gefährlich für die Birne sein“ – unter diesem Titel veröffentlichte Booker und Konzertveranstalter Tim Böning im Juli 2021 einen viel beachteten Artikel im Fachmagazin „Musikwoche“. Zwei Monate später ist der Raum im Hamburger East Hotel voll, als Böning am Freitagmorgen auf der Bühne des Panels „Black Box Mental Health | Für deutliche mehr mentales Wohlbefinden“ Platz nimmt. Und zwar erheblich voller als bei den meisten anderen Programmpunkten der Konferenz auf dem Reeperbahn Festival 2021.
Was er auf die Fragen von Moderator Steve Blame antwortet, sind Worte, die so oder so ähnlich häufiger verwendet werden, wenn man mit Personen aus der Musikbranche über ihre psychische Gesundheit spricht: „Welle reiten“, „nicht hinterfragen“, „durchrasen“, „funktionieren“ – wenn denn überhaupt darüber gesprochen wird. Zweifelsfrei sind Vorstöße wie die von Böning hilfreich und nötig, um das Thema in der Musikbranche kritisch aufzuarbeiten, doch ähnlich wie bei der Gleichberechtigung und der Nachhaltigkeit klaffen Notwendigkeit und Realität oft noch weit auseinander. Umso logischer wirkt das zahlreiche Erscheinen der Gäste.
Tim Böning weiß, wovon er redet. Seit 25 Jahren ist er in verschiedenen Funktionen in der Live-Branche tätig, betreut Künstler*innen wie Bilderbuch, Rin, Macklemore und viele weitere in seiner Agentur „Der Bomber der Herzen“. Vor zwei Jahren konnte er nicht mehr, und aus einem geplanten Klinikbesuch von vier Wochen wurden vier Monate. Er berichtet vom stressigen Tourleben, den Drogen, den romantisierten Rollenbildern und regt damit ein Gespräch an, das den Zuhörenden einen wirklichen Mehrwert bietet.
Die Ursachen
Außerdem auf der Bühne sitzen Ioanis „Pana“ Panagopoulos, ebenfalls Booker für Künstler*innen, wie James Blake, Jake Bugg und Charlotte Cardin, sowie Sonja Brüggemann, Musikbusiness-Veteranin und Coach für mentale Gesundheit für Personen aus der Branche. Rhetorisch gewandt und inhaltlich klar berichtet Brüggemann von ihren Erfahrungen aus der Arbeit mit Betroffenen. Offensichtlich sei es für sie, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung des Musikbusiness auseinandergehen. Die Akteur*innen spielen häufig eine Rolle, ganz so, wie es die Außenwahrnehmung von ihnen erwarte. Es sind solche Rollen, wie sie Böning beschreibt. Die des immer funktionierenden Workaholics, der unter der Oberfläche kurz vor der Implosion steht, die des unermüdlichen Feierbiests, das eigentlich ein großes Kokainproblem hat und daran kaputt geht.
Befeuert werde dieses System, darin sind sich alle einig, durch den Fakt, dass das Musikbusiness einen überproportionalen Anteil an Überzeugungstäter*innen aufweist. Man fängt an, weil man Musik liebt, weil man seine Zeit damit verbringen und sich selbst verwirklichen möchte, weil man getrieben ist. Dass die allermeisten Jobs der Branche allerdings so gut wie nichts mit der Musik selbst zu tun haben, betont Panagopoulos. Das Publikum reagiert mit zustimmendem Lachen.
Das „Überzeugungstätertum“ resultiere laut Brüggemann in einer unglaublichen Leistungsbereitschaft, die vergessen lässt, wann die Psyche eine Pause braucht. Die durchgängige Stimulierung durch die Arbeit und den Druck, um jeden Preis abliefern zu müssen, um nicht vom Karren zu fallen, sei die Hauptursache für das Problem. Hinzu kommt die allgegenwärtige Unsicherheit in sämtlichen Formen, vor allem finanziell, aber auch in Bezug auf die Arbeitszeiten und vielem mehr. Selbstausbeutung sei daher der Elefant im Raum. Abermals affirmatives Raunen.
Was tun?
Auch Fragen der Besucher*innen werden gestellt. Ein junger Mann, Mitte Zwanzig, berichtet von seiner Depression und seiner Sorge, den Anschluss an die Karriereleiter zu verlieren, wenn er sich die notwendige Pause nimmt, um sich ihrer anzunehmen. Was er dagegen tun könne, will er wissen. Die Redner*innen auf der Bühne können nicht anders als festzustellen, dass aktuell jede Maßnahme gegen den herrschenden Status Quo des Funktionierens karriereschädigend ist, und dazu zähle in erste Linie die Akzeptanz längerer Pausen. Hier ist sie, die Bestätigung der Relevanz des Panel-Themas. Erst durch die Corona-Pandemie habe Tim Böning die Zeit gefunden, sich um sich selbst zu kümmern. „Man kann das Fahrrad nicht reparieren, wenn man drauf sitzt“, sagt er.
Sonja Brüggemann spricht von Möglichkeiten der Prävention, um die alarmierenden Zahlen der an Depressionen erkrankten Personen aus dem Musikbusiness zu verringern. Studien seien zum Schluss gekommen, dass in England und Schweden jede*r Dritte darunter leide, so ihre Worte. In England gäbe es daher eine spezielle Hotline, die 24 Stunden am Tag erreichbar sei, sodass man auch mitten in der Nacht nach einer Show im Tourbus zwischen Birmingham und Manchester noch jemanden erreicht. Mehr gegenseitige Hilfe innerhalb der Branche sei daher ein lohnendes Ziel. Dem Reeperbahn Festival 2022 würde eine solche Schwerpunktsetzung sehr gut zu Gesicht stehen.