Rebel Music
Ab Mitte der 70er ist im ME eine Sehnsucht nach Neuem spürbar. Die Progger rocken immer hohler, technisch versierte Softrocker gniedeln sich eins, die „harte Welle“ ist öde geworden, Stagnation ist angesagt – von wegen „progressiv“. Da sickert und puckert ab Ende 1975 ein „musikalisches Vorund-Zurück in angenehmer Lautstärke“ (8/76) in die Ohren der Redaktion, das in England bereits die Massen begeistert. Der Reggae, diese „neue Rockmusik“ mit ihrem „visionären Botschafter einer besseren Welt“ Bob Marley kommt nach Europa und wird vom ME geradezu beseelt aufgenommen als revolutionäre Musik. „Reggae-Musik zwingt zum Nachdenken“, schreibt Chefredakteur Hermann Haring im Mai 1977, „weil ihre Botschaft über den Status Quo hinausgeht, der auch bei uns so leichtsinnig , Lebensqualität‘ genannt wird. (…) Dass der Marley-Rock über solchen Tiefsinn hinaus auch einfach Spaß bringt, hat er im vergangenen Jahr bewiesen.“
Apropos Status Quo: Die erleben in diesen Tagen – seit den 60ern verschmäht und vergessen — ein Comeback, weil ihre Art von schnörkellosem Rock’n’Roll plötzlich sehr gefragt ist, wie sie auch Dr. Feeleood spielen.
„Dr. Feelgood kommt aus der britischen Pubrock-Szene, die als Widerstandsnest gegen das Siechtum der englischen Rockszene entstand“, erklärt Hermann Haring im Januar 1977.DiePunk-Revolution liegt in der Luft, der ME lässt sich nicht lange bitten und stürzt sich hinein in den Spaß und weitet, begeistert von dieser erfrischenden “ Unterleibsmusik“, die Berichterstattung aus. Ergötzt sich an den unterhaltsamen Ausfällen der Sex Pistols („Sex Pistols sorgen für reichlich viel Terz“, 5/77), feiert Stranglers, Television und Ultravox, und begreift die „Welle“ nicht nur als nötiges reinigendes Gewitter, sondern sieht auch ihre Bandbreite und Relevanz. „Bands wie Ramones, Damned und Clash sind nur ein Teil des Wave-Spektrums.“ -„Nur noch Punk und Wave!“ klagen Leser, obwohl im ME freilich alles von CS&N über Stones bis Supertramp weiterhin zu seinem Recht kommt. Hermann Haring erläutert anhand der frühen ME-Wave-Favoriten Eddie And The Hotrods, worum’s u.a. – geht: „Dass die Rods (…) für verwöhnte Ohren richtig ordinär spielen, macht sie zu Heckenschützen in einer Musiklandschaft, in der sich kalte, überzüchtete Musik breitgemacht hat und das Rockpublikum im HiFi-Fachgeschäft um (…) den Wert des Klirrfaktors streitet.“ Am Ende gibt es etwas Katerstimmung (Silvie Simmons kolportiert Johnny Rottens Pistols-Schlusssatz „Schon mal das Gefühl gehabt, beschissen worden zu sein?“ aus L.A.), aber ein paar Verhältnisse haben sich auf den Kopf gestellt. In Heft 8/78 verkündet ME-Autor Harald Inhülsen die Schließung des von ihm gegründeten einzigen Iggy-Pop-Fanclubs Deutschlands: „Man kann nun ja in fast jedem Magazin über hgy lesen.“