Reading Festival 76


Reading, dieser Name einer Kleinstadt, 45 Meilen südwestlich von London, ging in die Annalen der Festivalgeschichte ein. Vor sechzehn Jahren zum erstenmal als Jazzfest ausgeschrieben, wurde diese Veranstaltung im Laufe der Zeit internationaler im Angebot, breitgefächerter in der musikalischen Transparenz und perfekter in der Organisation. Auch in diesem Jahr lockte Reading in drei Tagen runde 32 000 Fans an.


Organisation & Alkohol

„Ach, du kommst aus Deutschland ‚, stellte der rothaarige Engländer etwas zweifelnd fest, als er mich auf dem Festivalgelände nach Feuer fragte. So recht wollte er mir nicht glauben, daS ich extra für Reading aus Germany angereist sei. Wie dem auch sei, wir wurden schnell Freunde, und Arthur, wie mein neuer Bekannter hieS, machte mich mit der englischen Festivalmentalität vertraut. Was mir angenehm auffiel, war die Tatsache, daS das Gelände nicht von einem Polizeikordon umstellt war, was ja häufig in Deutschland der Fall ist und dem ganzen den Anstrich eines Straflagers gibt. Jack Barrie, der Organisationsvorsitzende, wußte nur zu gut, daß massive Polizeipräsenz provozierend wirken kann, und so verließ er sich bei der Planung auf STEWARDS, die freundlich aber bestimmt für Ordnung sorgten. Zu schwerwiegenden Zwischenfällen kam es nicht, obwohl die Polizei runde siebzig Personen verhaftete, entweder im Zusammenhang mit Rauschgiftdelikten oder kleineren Diebereien. Man muß dazu feststellen, daS für Langfinger die Versuchung auf solch einem Gelände sehr groß ist. In Reading hatte ich den Eindruck, in einem Warenhaus gelandet zu sein, so groß war das Angebot. Und noch etwas: Englische Festivals arten zu reinsten Sauforgien aus. Was dort an Bier und harten Alkoholika konsumiert wird, ist unfaßbar. Jemand kaufte drei Lagen Bier, sprich 36 Dosen, und zwar für ganze vier Personen.

Musik & Spaß

Die Veranstalter hatten in diesem Jahr runde 29 Gruppen gebucht, von solch unterschiedlicher Tendenz, daß jeder der 30 000 auf seine Kosten kam. Nun, ich meine für 45,- DM sollte das auch möglich sein, obwohl einige Gruppen dabei waren, die sicherlich nicht ihre Gage wert waren. Ich spreche insbesondere von Edward Beckford U-ROY und von den MIGHTY DIAMONDS, von denen sich die Reggae-verwöhnten Engländer mehr versprochen hatten. So kam, was kommen mußte. U-ROY wurde ausgepfiffen und die DIAMONDS mit einem Bierbüchsenhagel „belohnt“, sodaß EVENING POST von einem „Bierdosenkrieg“ sprach. Mit etwas mehr Einfühlungsvermögen von Seiten dieser Interpreten hätte es ein musikalisches Erlebnis werden können. Mit solchen Schwierigkeiten hatte die EARTH BAND bei der Vorstellung ihrer neuen LP nicht zu kämpfen. Der guten Stimmung bei ihrem Auftritt konnte auch ein Wolkenbruch nichts anhaben, übrigens der erste seit drei Monaten. SUPERCHARGE haben sich auf dem Festival als die Publikums-Lieblinge verabschiedet. Ihre Show war gewürzt mit Gags und spontanen Anspielungen, sodaß das Gelände vom Gelächter der 30 000 widerhallte. Ebenso perfekt und stilsicher präsentierte sich die neue GONG-Formation und die nur für Live-Auftritte zusammengestellte Phil Manzanera-Gruppe. Als musikalisches Bonbon angekündigt, welches jedoch vielen im Halse steckenblieb, stellte sich der ehemalige Don van Vliet Mitstreiter Zoot Horn Rollo vor. Seine Gruppe „Mallard“ konnte keine einheitliche Stimmung erzeugen und dementsprechend waren auch die Meinungen nach ihrem Auftritt. Ebenfalls zwiespältige Gefühle hinterlassend verabschiedeten sich die PAT TRAVERS BAND und die SADISTA SISTERS. Trotz der für mich nicht immer gelungenen musikalischen Auswahl war das Reading-Festival ein Erlebnis. Ich bin nächstes Jahr wieder dabei, wenn es heißt: „Are you ready for Reading?“