Radiohead – OK Computer
Genie, Wahnsinnund der Vorschlaghammer der Schwermut schmiedeten diesen Brocken. Nun liegt er wie ein von Gletschermassen mitgeschleifter Findling tonnenschwer am Wegesrand des Rock. An ihm muss vorbei, zu ihm muss sich irgendwie verhalten, wer heute Rockmusik von Relevanz machen möchte. OK COMPUTER, das ist eine der ganz wenigen Platten, die mit musikalischen Mitteln eine gültige Aussage über den Zustand des Menschlichen in der Moderne treffen will. Und auf ihre einzigartige Weise auch trifft, mit jedem Ton, selbst dem einer monotonen Computerstimme: „Fitter, happier, more produetive … like a pig in a cage on antibiotia.“ Weshalb auch hier der Vergleich mit Pink Floyds DARK SIDE OF THE MOON ausnahmsweise mal nicht allzu weit hergeholt ist. Hier wie dort wird im Rahmen des Rock nach der „conditio humana“ geforscht, und hier wie dort findet der Rock über diese Aufgabe zu einer Sprache, die er zuvor noch nicht kannte. Wofür nicht nur Sänger und Texter Thom Yorke mit seiner beinahe schon euphorisch larmoyanten Stimme, sondern vor allem auch Jonny Greenwood mit seiner wie besessenen Gitarrenarbeit verantwortlich ist. Und seinen vielfältigen und nie zuvor gehörten, sorgsam am Computer dekonstruierten Störgeräuschen, die mit sparsamen Mitteln jedem einzelnen Song auf diesem Album eine seltsam unwirkliche Aura schenken. Allein „Paranoid Android“, dieses überlange Spiegelkabinett aus drei verschiedenen, ineinander verschachtelten und einander dementierenden Songskizzen, hat manchen alten Progrocker aufhorchen und viele überhaupt erst zu solchen werden lassen. Ein Beispiel für Dynamik und dafür, was möglich ist, wenn man sich von bewährten Strukturen trennt. Und was man darf, wenn man bewiesen hat, dass man die Möglichkeiten innerhalb dieser Strukturen vollkommen auszuschöpfen versteht – siehe und höre „Karma Police„. Dabei ist dies alles andere als ein Konsensalbum. Zu „weinerlich“ und zu „pathetisch“ war dieses Werk in den Ohren solcher Kritiker, die Radiohead nur allzu gerne mit U2 verwechselten. Wobei Musik, zu der man sich dermaßen trefflich aufs Bett werfen und mies fühlen darf, so schlecht nicht sein kann. Wie ernst es der Band mit diesem monolithisch-melancholischen Ausdruck tiefster Verzweiflung angesichts der entmenschlichenden Zwänge unserer Zeit war, zeigt, dass sie sich diesen Zwängen nicht unterworfen und die einmal gefundene Formel nie wieder verwendet haben. OK COMPUTER steht in Ausdruck, Form und Wahl der Mittel heute wie damals solitär. Muse, Coldplay und viele andere Stadionhelden der Gegenwart wären ohne dieses Album nicht möglich gewesen. Radiohead selbst waren es danach auch nicht mehr, aber das ist eine andere Geschichte.
ME 7/1995:
„Bisweilen klingen Radiohead wie die Schnittmenge aus abgespeckten frühen Yes, modern produzierten Pink Floyd und aufgepeppten frühen öl. (…) Somit ist OK COMPUTER zunächst gewöhnungsbedürftig. Dann abersetzt die Langzeitwirkung ein und die Ahnung, daß Radtohead noch mal ganz groß werden können.“