Radiohead: Der Trick mit dem Netz


Radiohead wollten einfach nicht mehr so lange warten auf die Veröffentlichung ihres Albums - und zettelten eine Revolution an.

Mehr als vier Jahre sind seit Hail To The Thief verstrichen. Nun gut, das ist für eine Supergroup eine durchaus angemessene Veröffentlichungslücke. Angst haben mussten die Fans jedenfalls nicht: Die wenigen, immerhin vorhandenen neuen Songs, welche die 2006 wahrlich nicht konzertfaulen Radiohead live spazieren führten, deuteten sogar eine Rückkehr zu den eingängigeren Songstrukturen von ok Computer an. Selbst in den Zeiten fortschreitend bröckelnder Tonträger-Absatzzahlen musste diese Rechnung doch wenigstens im Fall von Radiohead noch aufgehen: große Publikumserwartungen + einschmiegsame Melodien = Hitalbum. Der Vertrag mit EMI Records war mit Hail To The Thief ausgelaufen. Und so wurde nicht nur über die weitere musikalische Reise der Oxforder spekuliert, auch der Vertrieb ihrer Musik waren neben der allerwichtigsten Frage nach dem Veröffentlichungstermin ungezählte Meldungen im Internet wert: Wer wird den Coup landen?

Radiohead landeten ihn. Statt mit ihrer Platte hausieren zu gehen, um sie dem meistbietenden Multi zum Vertrieb zu überlassen, stellte die Band mit kurzem Countdown (Gitarrist Johnny Greenwood im bandeigenen „Deep Air Space“-Blog: „Hallo zusammen! Nun,unser neues Album ist fertig. Es kommt in zehn Tagen raus. Wir haben es In Rainbows getauft. Alles Liebe!“) am 10.10.2007 ihr Album auf www.inrainbows.com bereit – zu einem Downloadpreis, den der Käufer selbst bestimmen konnte. Wenn er es geschenkt haben wollte, bekam er es geschenkt. Und der NME hatte endlich wieder einmal eine richtige Schlagzeile: „Shock! New album out today!“

Die Aktion löste eine unbezahlbare Publicity aus – für die Radiohead nicht ein Interview geben mussten, nicht einem Vertragspartner die Hand schütteln, keinen Kompromiss eingehen mussten. Auch wirtschaftlich war der Coup ein Instanterfolg: In Rainbows war im eigenen Studio produziert worden, die Download-Erlöse fließen nahezu zu 100 Prozent in die Tasche der Band. Internet-Recherchen zufolge soll das Album in der ersten Woche über eine Million Mal heruntergeladen worden sein. Radiohead-Manager Chris Hufford verriet lieber keine Zahlen, weil er befürchtet, dass die Aktion ausschließlich als „Marketingtrick“ interpretiert wird. Immerhin spielte er aber der Biz-Fachschrift Music Week die Information zu, dass mehr als die Hälfte der Downloader für das Album bezahlt härten. Diverse Umfragen in der britischen Tages- und Musikpresse ergaben, dass die meisten Fans zwischen vier und fünf Pfund (etwa 6,50 Euro) für die Platte zu geben bereit waren. Wäre die CD von einem Plattenlabel in die Shops gestellt worden, hätte die Band pro verkauftem Exemplar ca. 17 Prozent des Grosshandelspreises kassiert.

Zu der Überzeugung, dass eine Bezahlung auf freiwilliger Basis funktionieren könne, seien Hufford und sein Partner Bryce Edge im Verlauf eines Gespräches mit einem kalifornischen IT-Spezialisten gekommen: „Die Verbreitung von Software beruht auf einem ähnlichen System. Viele Benutzer sind gewillt, quasi Spenden zu schicken „, erläuterten sie Music Week. „Es ist gut, von der Annahme auszugehen, die Kunden seien ehrlich. Ich glaube, die meisten sind es.“ Das Echo in den Medien und in den Fanblogs war überwältigend positiv. Auch begrüßenswert: Viele Menschen, die bislang Radiohead keine große Beachtung geschenkt hatten, haben sich das Album dennoch heruntergeladen. Plattenfirmen hielten sich bislang zurück mit Kommentaren zur neuen Vermarktungsstrategie von Radiohead. Music-Week-Redakteur Paul Williams allerdings gab sich in einem Editorial ungehalten. Bei allem Respekt für Radiohead, schrieb er, sei er der Meinung, dass sich die Band hier den Luxus eines Gimmick leiste, den sie sich nur erlauben könne, weil sie etabliert sei: „In den Augen des Konsumenten wird dieser Schritt den Effekt haben, den Wert einer Musikaufnahme besonders von unbekannten Künstlern zu reduzieren. Warum soll er für das Album eines unbekannten Künstlers mehr zahlen, wenn er das Radiohead-Album für 45 Pence bekommen kann?“

Blogs und Umfragen lassen allerdings darauf schließen, dass viele Fans dennoch die CD nachkaufen werden, wenn diese im Januar in die Läden kommt. Oder sie haben ohnehin bereits für 40 Pfund die Sammlerbox bestellt, die Anfang Dezember verschickt wird und neben der Album-CD die Vinylversion von in rainbows, eine CD mit weiteren neuen Songs, Artworks, Fotos und Textbüchlein enthält.

Der Beweis ist erbracht: Radiohead können nicht nur die Popmusik revolutionieren, sondern auch den zugehörigen Markt. Wer allerdings zwischen den Zeilen liest und vor allem die wenigen Informationen, die aus der Bandzentrale dringen, auswertet, kommt zu dem Schluss, dass hinter dem „Rainbows“-Experiment kein Masterplan zum Umsturz stand, sondern eher eine fixe Idee, gespeist aus Übermut und Frust. Frust darüber, dass nach Fertigstellung des Albums einmal mehr Monate ins Land gehen würden, bis es auf dem konventionellen Weg zum Publikum findet, wie Gitarrist Jonny Greenwood berichtete.

Inzwischen steht die Band ganz konventionell vor dem Vertragabschluss mit einem Plattenlabel. Die New York Times meldete prompt, es handele sich hierbei für Europa um das Londoner Label XL (u.a. M.I.A., The White Stripes) und für Amerika um die vom Musiker Dave Matthews aufgebaute Firma ATO Records. Bis zum Redaktionsschluss des ME wollte sich keiner der Beteiligten konkret dazu äußern.

Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Band im Chaos um die Ungewisse Zukunft der Plattenmultis und die noch offene des Downloadings einfach Lust dazu hatte, etwas Neues zu probieren. So, wie Prince und Ray Davies Neues ausprobierten, als sie ihre letzten Alben gratis britischen Sonntagszeitungen beilegten. Prince, der schon 2001 eine eigene Intemet-Vertriebsplattform mit fester Clubmitgliedschaft eröffnet hatte, hätte in Grossbritannien vielleicht noch mit 20.000 verkauften CDs rechnen können. Bei einer Auflage von 400.000 Zeitungen kassiert er schon mal die „mechanischen“ Tantiemen für 400.000 CDs, was wesentlich mehr ist, als der Profit von 20.000 verkauften Tonträgern.

Auch Nine Inch Nails und Robbie Williams haben inzwischen verlautbaren lassen, dass ihre kommenden Alben ohne Plattenfirmen unter die Leute gebracht werden sollen. Paul McCartney und die Eagles haben zuletzt Kaffeehaus- und Supermarktketten ihre Musik vertreiben lassen. Und die erfolgreichste unter den Popgeschäftsfrauen, Madonna, schloss ihren jüngsten Vertrag inkl. rekordverdächtiger Garantiesumme gleich mit einem Konzertveranstalter ab – statt mit Warner.

„Bei den Majors arbeiten heute halb so viele Menschen wie vor fünf Jahren“, erklärte Thom Yorke beim Erscheinen seiner Solo-CD, die letztes Jahr von XL verlegt wurde und es in den US-Charts bis auf Platz zwei schaffte. „Überall wird gespart. Man hat nur noch Zeit für die Bands, die Topprioritäten sind. Wir haben viele tolle Freunde bei EMI. Als wir am Anfang da unterschrieben, war das eine unglaublich kreative Umgebung. Aber dann beobachtet man diese Implosion, da muss man sich schon fragen, ob man damit noch was zu tun haben will.“ Die Antwort auf diese Frage gaben Radiohead am 10. Oktober 2007.

www.radiohead.com