Radiohead


Ihre Songs sind alles andere als optimistisch. Trotzdem deutet alles darauf hin, daß den fünf von Radiohead die Zukunft gehört. England liegt ihnen schon zu Füßen.

AM ANDEREN ENDE DER LEITUNG wird’s still. Fast kann man hören, daß der Gesprächspartner in Japan am liebsten auflegen würde. Nein, man redet nicht so gern über Musik im Hause Radiohead, man macht sie lieber. Und wenn man gerade viele tausend Meilen vom heimischen England entfernt ist, kommen Interviews ganz offenkundig besonders ungelegen. Dennoch: Am grandiosen Erfolg von Radiohead führt in diesen Tagen kein Weg vorbei – nicht für die Medien, und schon gar nicht für die Band. Das beeindruckendste Barometer für die Beliebtheit von Thom Yorke und seiner Band bleibt der unlängst veröffentlichte Pop Poll des britischen Traditionsblattes „Melody Maker“. Die Leser der wöchentlich erscheinenden Musikgazette wählten Radiohead zur Band des Jahres, ihr Album „OK Computer“ zur besten LP und Radiohead-Frontfigur Thom Yorke zum Mann des Jahres. Darüber hinaus kürten die Leser des „Melody Maker“ Radiohead auch noch zum besten Live Art. Wie steht man als Musiker derlei Lobpreisungen gegenüber? Begleitet von einem tonnenschweren Seufzen ringt sich Gitarrist Jonny Greenwood in Japan zu einer Antwort durch:“Nun,soviel Lob ist natürlich schön. Bloß fällt es leichter, sich mit Kritik auseinanderzusetzen als mit Lob.“ Nett gesagt. Das Problem ist nur: Es gibt keine negativen Resonanzen auf Radiohead. Inzwischen ist die Kapelle aus Oxford beinahe bekannter als der dortige Campus. Seilt sich die Frage: Woher rührt der schier unbegreifliche Ruhm von Radiohead? Die Antwort: Wie so oft ist es auch im Falle der neuen britischen Rockgötter die Mischung, die den Erfolg ausmacht. Abstrakte aber erkennbar düstere Texte, gepaart mit ebenso einfühlsamen wie kraftvollen Tönen einer Band, die ihre Musik erstaunlich ernst nimmt – selbst Radiohead sind am Ende „nur“ eine Rockgruppe -treffen den Nerv der Zeit. An der Schwelle zum nächsten Jahrhundert,ja sogar zum nächsten Jahrtausend, bietet die Welt ein erbärmliches Bild: Kriege, Massenarbeitslosigkeit, Umweltzerstörung. Und nichts deutet darauf hin, daß sich die dramatische Situation in absehbarer Zeit verbessert. Im Gegenteil: Die Prognosen der Wissenschaft für das 21. Jahrhundert sind düster-genau wie die Songs von Radiohead, jedenfalls, was weite Teile ihres Repertoires angeht. Doch diese Musik, so scheint’s, spiegelt die Befindlichkeit eines beträchtlichen Teils der jungen Generation wider. Nicht nur in England, dem Mutterland von Radiohead, sondern auch im restlichen Europa und ganz besonders in den USA, wo Radiohead schon vor längerer Zeit ein Tournee mit den Superstars von R.E.M. absolvierten. Brüder im traurigen Geiste? Manches deutet darauf hin. So zerrten Michael Stipe und die Seinen ihre Vorband am letzten Abend der Tournee nach getaner Arbeit zurück auf die Bühne, schenkten Champagner aus und riefen – den Blick auf Radiohead gerichtet – 20.000 Leuten in der riesigen Arena zu: „Wir lieben diese Band!“

Inzwischen werden die fünf Radioheads von der halben Rockwelt geliebt. Eine Tatsache, die zumindest den hypersensiblen Sänger Thom Yorke nicht immer nur zu freuen scheint. Er sei eine ganze Weile lang selbstmordgefährdet gewesen, und schon deshalb müsse man Yorke schonen, läßt ein Mensch aus Thoms Plattenfirma hinter vorgehaltener Hand verlauten, als die Frage an ihn gerichtet wird, weswegen der Frontmann von Radiohead bei Interviewterminen lieber seine Mitmusiker vorschicke. Wenn Yorke in raren Momenten öffentlicher Beredsamkeit dann aber doch mal den Blick freigibt auf seine Befindlichkeit, läßt nur wenig darauf schließen, daß er den weltweiten Erfolg tatsächlich liebt. „Es ist lächerlich, aber ab einem gewissen Punkt (der Popularität; Anmerkung der Redaktion) nehmen es dir die Leute extrem übel, wenn du nicht in ihrem Land auftrittst. Ich meine, wirklich extrem übel. Das ist wie Erpressung. Jedesmal, wenn du eine Platte aufgenommen hast, erpressen sie dich, für zwei Jahr auf Tour zu gehen. Das ist alles Teil der Marketingkampagne“, sagte Yorke unlängst in einem Gesprach mit dem britischen Magazin „Select. Die anderen Bandmitglieder scheinen mit dem deutlich Plus an Popularität besser umgehen zu können als ihr zerbrechlicher Sänger. So hat Gitarrist Jonny Greenwood sich für seinen Aufenthalt in Japan kurzerhand ein Pseudonym zugelegt – zum Schutz vor ungebetenem Besuch im Hotel. Wer dort nach einem Herrn Greenwood fragt, hat keinen Erfolg. In Japan nämlich heißt der Radiohead-Gitarrist Lee Morgan. „Ein Trompeter“, erklärt Greenwood seinen Deckmann, „spielte mit Art Blakey’s Jazz Messengers. Fantastischer Musiker. Wurde 1972 auf offener Bühne von einer eifersüchtigen Freundin erschossen.“ Ach, wirklich? Greenwood wittert einen Hintergedanken. „Das mit der Freundin hat nichts zu bedeuten. Ich nenne mich schon lang so. Lee Morgan ist für ausländische Empfangsdamen einfach zu buchstabieren. Aber wenn ich mir’s recht überlege – eigentlich wäre schon lange ein neuer Name fällig.“

Apropos Name: Als Radiohead 1991 ein Demo aufnahmen, um sich damit bei den Plattenfirmen zu präsentieren, nannten sich die Herren Yorke und Greenwood sowie Schlagzeuger Phil Selway, Gitarrist Ed O’Brien und Bassist Colin Greenwood noch On A Friday. Ein befremdlicher Name, der -völlig am wirklich Sound der Band vorbei – nach dem Synthiepop der 80er klang. Dabei konnten Colin, Thom und die anderen schon damals „alles“, wie sich Ed O’Brien erinnert:“Trotzdem, die Kritiker schossen unser erstes Album ab. Oft mit Argumenten wie, es sei schizophren und weise eine zu große Stielvielfalt auf, weswegen die Platte keinen inneren Zusammenhalt habe.“ Und auch daran erinnert O’Brien sich: „In den ganz frühen Tagen spielten wir oft einen Ska-Tltel, dann eine große Rocknummer, und am Ende schließlich einen sehr stillen Song zur akustischen Gitarre. Der Sound von all dem war natürlich noch übel, aber unsere Vielseitigkeit war schon vorhanden.“

Was aber nutzt In den Augen der strengen Kritiker schon Vielseitigkeit, wenn weder der Name (On A Friday) noch die Herkunft (Oxford) einer Bands ins stets auf Coolness bedachte Rockspektrum passen? Anfang der 90er Jahre hatte man gefälligst nach Grunge zu klingen und mindestens aus Seattle zu stammen. Ganz sicher aber nicht aus der britischen Provinz. Wenn überhaupt schon aus England, dann mindestens aus einer der tristen Vorstädte von London, Liverpool oder Manchester. Dorther also, wo man sattsam bekannten Klischees zufolge zwischen Hundedreck und verkommenen Hinterhöfen den besten Nährboden für rebellischen Rock’n’Roll und hart kickenden Fussballnachwuchs vorfindet. Diese „Street Credibility“ jedoch fehlte den fünf von Radiohead vollkommen. Vielmehr entstammten sie alle einem gutbürgerlichen Umfeld und hatten sich In einer Privatschule in der Nähe von Oxford kennengelernt. Selbst Thom Yorke, dessen Texte bisweilen Züge eines eruptiven Zorns in sich tragen, verlebte eine nicht eben unglückliche Jugend.

Allerdings hatte Yorke mit sechs Jahren schon mehrere Operationen wegen einer Muskelschwäche an seinem linken Auge hinter sich, die ihm nicht nur eine Augenbinde, sondern im Kindergarten auch einigen Spott einbrachten. Ein zufriedener Junge war Thom trotzdem: „Als Kind war mir nie langweilig“, teilte er in einem Anflug von Offenheit vor ein paar Monaten dem englischen Magazin „Q“ mit, „mein Traum war es, Brücken zu bauen“-was Yorke im übertragenen Sinne zwar oft, aber längst nicht immer gelang. So mußte er sich In der Privatschule einem Rektor beugen, den er später einmal als „machthungrigen, irren, bösartigen, gemeinen kleinen Mann mit lachhaften Koteletten“ bezeichnete. Als jemanden,“der ständig eine Haarsträhne über den Kopf warf, um seine Glatze zu verbergen“. Nachdem es bei einem Schulfest mit einer Punkband zu Problemen gekommen war, verbot der strenge Pädagoge auf dem Gelände seiner Schule jegliche Musik, die mittels elektrisch betriebener Instrumente gemacht wurde. „Was zur Folge hatte, daß ich den Mann erst recht haßte“, wie Yorke sich erinnert. Doch gab es auch Menschen, die er bewunderte; den Sozialtheoretiker Noam Chomsky zum Beispiel und den Dichter Tony Harrison,den Sänger Scott Walker und… den dämonischen Doktor Faust: „Ich kann mich sehr gut mit jemandem identifizieren, der sich mit kleinen Teufeln und nackten Frauen umgibt.“

Den Klauen des sicher wohlmeinenden, in Thoms Augen aber tyrannischen Rektors entronnen, studierte Yorke an der Uni in Exeter Kunst („Man ging die Straße runter, und überall lag Kotze. Wenn ich das sah, dachte ich immer: Kein Wunder, daß die Leute uns Studenten hassen“). Auch die anderen Radioheads strebten eine akademische Ausbildung an. Colin Greenwood und Phil Selway studierten Englisch, Ed O’Brien entschied sich für Politik. Jonny Greenwood dagegen suchte auch schon an der Hochschule sein Glück als Musiker. Wobei sein Studium allerdings gerade mal drei Wochen dauerte. Dann lockte ein Plattenvertrag. Greenwood heute: „Es gab Leute, die mich davon überzeugen wollten, daß es keine gute Idee sei, das Musikstudium an den Nagel zu hängen. Zum Glück habe ich ihnen aber nicht geglaubt.“ So unterschiedliche Interessen die einzelnen Mitglieder von Radiohead nach der Schulzeit auch verfolgten, so klar war den fünf Freunden auch, daß man am Ende doch wieder In einer gemeinsamen Band zusammenfinden würde. Schlagzeuger Phil Selway: „Wir wußten genau, daß wir irgendwann wieder zusammenkommen würden. Alle waren fest dazu entschlossen.“

Der Song „Creep“ markierte für die meisten Fans der fantastischen fünf aus Oxford die erste Begegnung mit Yorke, Creenwood & Co. Mit jener Band also, die sich einige Zeit zuvor von On A Friday in Radiohead umbenannt hatte. Wobei „Creep“ bereits die zweite Veröffentlichung des akademischen Quintetts war. Zuvor nämlich hatte Radioheads Record Company EMI das Debüt „Drill“ als EP auf den Markt gebracht. Doch diese Veröffentlichung war nur bedingt auf Gegenliebe gestoßen. Dafür sorgte schon der Text des ersten Songs. „Ich bin besser dran, wenn Ich tot bin“, sang Yorke dort wenig ermutigend. Und derlei Tristesse lag damals nicht eben Im Trend. Da ravten die Briten schon lieber zu Happy Mondays oder EMF. Nein, in das damals vorherrschende Klangbild paßten Radiohead partout nicht hinein. Im nachhinein betrachtet Drummer Phil Selway die anfangliche Außenseiterrolle von Radiohead allerdings als Vorteil: „Weil wir in Oxford lebten, in einer Stadt also, die damals in punkto Musik ein ziemlich öder Flecken war, gerieten wir nie in den Sog der Londoner Modeerscheinungen. Das gab uns viel Raum und Zeit für unsere ganz eigene Entwicklung.“ Was zur Folge hatte, daß man sich zu dieser Zeit in bestimmten Keisen darüber lustig machte, daß die Radioheads lieber eine Runde Bridge spielten statt Drogen zu nehmen.Trotz aller aufgesetzen Coolness seitens der Kritik: „Creep“ wurde – dank MTV Amerika und etlicher Radiostationen in den USA – In den Staaten zu einem veritablen Hit. Eine Tatsache, die in der englischen Heimat von Radiohead prompt zu einer Wiederveröffentlichung des Songs führte. Und siehe da: Plötzlich plazierte „Creep“ sich in den Top Ten der Verkaufs-Charts. Der Erfolgsdruck, dem die Band ausgesetzt war, wurde stärker- und Yorke begann zu trinken. Schlimmer noch: In London ging das Gerücht, die Band greife auch zu harten Drogen. Im britischen Rockmagazin „Q“ dementierte Yorke auf eigene Art:“Wir und harte Drogen? Das wäre schrecklich. Dann würden wir klingen wie Bryan Adams!“ Fest steht: Die Band steckte in einer Krise. Bei einer Tour in Mexiko entluden sich die Spannungen: „Die ganze Crew war in einem Bus mit nur sechs Pritschen unterwegs, auf denen kaum jemand Schlaf fand“, erinnerte sich Yorke später an die desaströse Reise,“da brach alles aus uns heraus – wir heulten, schrien und spuckten uns an und sagten all die Dinge, die wir jahrelang in uns hineingefressen hatten.“ Auf drastische Weise zwar, aber eben doch geläutert, kehrten Radiohead nach England zurück – und traten jenen Siegeszug an, der nun selbst ehemalige Kritiker sagen läßt: „Dieser Band gehört die Zukunft.“