Punk ist doch längst tot, oder?
Die Meinungen gehen auseinander: Lebt Punk für alle Zeiten weiter? Oder war am Ende doch nur alles ein großer Rock'n'Roll-Schwindel?
Zeichnen wir kurz die Karrieren einiger Protagonisten der Londoner Punkszene nach. Alle waren – zumindest kurzfristig – bei dem legendären Bandprojekt „London SS“, das ein gewisser Tony James und sein Kumpel Mick Jones 1975 ins Leben riefen, wie etwa Chris Miller alias Rat Scabies und Brian James, Gründungsmitglieder von The Damned. Zu ihnen stieß Raymond Burns, besser bekannt als Captain Sensible. Richtig, genau jener Captain Sensible, der Mitte der Achtziger mit Popnummern wie „Wot“ oder „Glad It’s All Over“ europaweit Erfolge feierte. Und bis heute nicht aus dem Mainstream-Radio wegzudenken ist. Mick Jones selbst fand sich zusammen mit Paul Simonon und Nicky Headon bei The Clash wieder. Deren Sänger, Joe Strummer, zieht heute mit seiner Band The Mescaleros durch die Lande und spielt schale Versionen alter Clash-Hits. Seine ehemaligen Kollegen halten sich mit den Tantiemen, die ihnen der zweite Frühling ihres Hits „Should I Stay Or Shoud I Go“ 1991 bescherte, über Wasser. Der Jeansschneider Levi’s hatte den Song in einem seiner Clips verbraten, die Nummer schaffte es daraufhin bis auf Platz fünf der deutschen und bis auf Platz eins der englischen Charts. Tony James hingegen gründete zusammen mit seinem Spezi Billy Idol die Combo Generation X. 1981 entschloss sich Idol zu einer Solokarriere und gab fortan die wasserstoffblonde Rocksau. Inzwischen veröffentlicht er, aufgedunsen und von jahrzehntelangem Drogenkonsum schwer mitgenommen, desaströse Unplugged-Alben. Tony James meldete sich Jahre nach dem Aus von Generation X mit dem Projekt Sigue Sigue Sputnik zurück. 1986 erschien deren Single „Love Missile F1-11“, ein bizarres Stück Synthie-Pop (produziert von Disko-Legende Giorgio Moroder), kurz darauf folgte das Album „Flaunt It“, auf dem Sigue Sigue Sputnik den Platz zwischen den Songs für Werbespots verkauften. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass Sänger Martin Degville vorzugsweise mit einer zerrissenen Netzstrumpfhose über dem Kopf auftrat. Aber gut, wer’s mag. Die Liste ließe sich noch beliebig lang fortsetzen, zu einem eindeutigen Ergebnis käme man trotzdem nicht. Einige derinteressantesten Köpfe der Kernzeit des Punk hielten sowohl am Sound als auch an den Idealen jener Zeit fest, andere versuchten ihre Ideen mit anderen Mitteln weiterzuführen, wieder andere verkauften sich hemmungslos an die Industrie. An dieser Stelle sei noch mal darauf hingewiesen, dass Malcom McLaren in den englischen Hochadel einheiratete und sich vor gut zwei Jahren in London als Bürgermeisterkandidat aufstellen ließ.
Es ist wichtig, zwischen Punk als Stilrichtung und Punk als Geisteshaltung zu unterscheiden. Die Musik ist laut, schnell, dreckig und riecht nach Straße. Für Punk muss man keine Noten lesen können, geschweige denn ein Instrument beherrschen. Nach dieser Vorgabe ist Punk nie gestorben. Rund um den Globus gibt es Punkbands, die allen noch so strengen Dogmen genügen. Die sich optisch, musikalisch und geistig der reinen Lehre verpflichtet fühlen, die sich nicht von der Industrie vereinnahmen oder gar kaufen lassen. Bands, die Teil einer sehr vitalen Szene sind, die sich dem Kommerz verschließt, kleine, unabhängige Labels betreibt, in Eigenregie Konzerte organisiert und Fanzines in Kleinstauflage produziert. Und in einemParalleluniversum feststeckt, in dem für alle Zeiten das Jahr 1976 herrscht. Aber auch wenn man das Ganze nicht durch die Dogma-Brille betrachtet, erfreut sich Punk(rock) bester Gesundheit, gerade in Amerika. Dort polterten von 1974 an die Ramones, 1977/78 legten Black Flag und die Dead Kennedys den Grundstein für die Hardcore-Bewegung, es folgten Hüsker Du, Fugazi oder die Pixies, um nur die Wichtigsten zu nennen. Ende der Achtziger dann tauchten Bands wie Green Day oder The Offspring auf, die Punk endgültig in den Mainstream überführten, eine Entwicklung, die längst nicht abgeschlossen ist und von der heute die ganzen Blink-182s und Bloodhound Gangs profitieren. Ganz zu schweigen von der Grunge-Bewegung mit all ihren Ausläufern, die ihre Wurzeln ebenfalls in der Punkszene hatte. Man denke nur an Sonic Youth oder die Melvins.
Wer jedoch nach Klängen sucht, die in ähnlicher Weise Grenzen niederrissen, wie es die frühen Punkplatten taten, muss sich natürlich längst in anderen Genres umsehen. Im HipHop zum Beispiel. Oder im Techno. Wer einmal eine Jeff-Mills-Platte gehört hat, wird nie wieder allen Ernstes behaupten, dass es nach Punk keine musikalische Revolution mehr gab.
Dass die meisten der Bands, die heute in Plattenläden im Punk-Regal zu finden sind, mit dem geistigen Hintergrund der Urpunks kaum mehr etwas zu tun haben, ist nur logisch. Punk als oft sozialromantisch verklärter linker Haken gegen das Establishment, gegen autoritäre Machtverhältnisse und somit gegen die Gesellschaft hat sich überholt. Die Idee der Punks als Abfall der Industriegesellschaft, der plötzlich hinter der farbenfrohen Fassade des Wirtschaftswachstums hervorgekrochen kam und der bürgerlichen Gesellschaft ein Dorn im Auge war, kann nicht mehr funktionieren. Seit 1977 sind 25 Jahre vergangen, in denen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend verändert haben. Wie soll man sich von einer Gesellschaft, die sich weitestgehend selbst an (scheinbar) radikale Jugendkulturen gewöhnt hat, diese nicht nur toleriert, sondern auch noch vermarktet, abgrenzen? Wie soll man provozieren? Hinzu kommt, dass vielen ein oberflächlicher Lifestyle wichtiger ist als ein auf bestimmten Grundlagen basierender, durchdachter Lebensstil.
Zum Teil aus Mangel an authentischen Wurzeln, zum Teil aus dem Drang nach Selbstverwirklichung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit werden Elemente aus dem Punk einfach in den eigenen Lebensentwurf eingebaut. Was zum Teil bizarre Blüten treibt, etwa wenn Münchens verhätschelte Jeunesse doree in der Nobeldisko „Pacha“ bei Caipirinha und Vodka Red Bull zu Lounge- und House-Klängen eine „Punk Party“ feiert.
Punk hat in so ziemlich allen gesellschaftlichen Bereichen seine Spuren hinterlassen, am nachhaltigsten natürlich in der Mode. Im vergangenen Jahr läutete die schwedische Klamotten-Kette H&M mal wieder ein Comeback des Punkstils ein. Mit Erfolg. Bis heute sind kunstvoll zerrissene T-Shirts, Nietengürtel und Sicherheitsnadeln schwer angesagt. Selbst der Irokesenschnitt, einst Markenzeichen der Bürgerschrecks, ist in dieser Saison endgültig im Mainstream angekommen, zeigten sich doch selbst wenig anarchistisch gesinnte Zeitgenossen wie Sasha, Mehmet Scholl oder David Beckham mit aufgestellten Haaren. Einst Zeichen des Protests gegen die Gesellschaft und gezielte Provokation, sind die meisten Bestandteile der PunkÄsthetik längst nur mehr harmlose Accessoires eines nach Selbstverwirklichung strebenden Teils unserer Gesellschaft. Selbst Hundehalsbänder und schwere Eisenketten, früher der S/M-Szene entliehene Insignien, sind heute nicht mehr als nette Gimmicks, kaum dazu angetan, die Eltern in den Wahnsinn zu treiben. Nur vor der Verwendung faschistischer Symbole schreckt der Mainstream noch zurück. Einzig Marilyn Manson folgt mit seinen stilisierten SS-Runen den Spuren von Sid Vicious, der sich gern mal im Hakenkreuz-T-Shirt fotografieren ließ, und von Johnny Rotten, der sich mit einer Sicherheitsnadel das Eiserne Kreuz ans Revers heftete. Überflüssig zu erwähnen, dass sowohl die Pistols als auch Herr Manson mit braunem Gedankengut nichts am Hut haben, sondern schlicht auf die Schockwirkung setz(t)en.
Die Punkästhetik hat nicht nur in der Mode Einzug gehalten, auch in der Fotografie (Jürgen Teller), dem Zeitschriften-Layout (Ray Gun, The Face), selbst in der Innenarchitektur finden sich seit der Verwendung industrieller Materialien Merkmale des Punks. Die Gesellschaft hat sich nicht nur daran gewöhnt, sondern die Stilelemente aufgesogen, domestiziert, kultiviert und kommerzialisiert. Punk taugt nicht mehr als Mittel zur Provokation, Punk ist heute allenfalls ein Stilsurrogat. The King is dead, but he’s not forgotten. This is the story of Johnny Rotten.