PUNK


Michael Sailer

Ein bescheidener Beginn für eine Revolution: Vier kurzhaarige Teenager betraten am 6. November 1975 eine niedrige Bühne im ersten Stock des Londoner St. Martin’s College, um ihren ersten Gig zu spielen, eine Viertelstunde, fünf Songs. Ein gutes Dutzend Leute sahen zu, auch Adam Ant: „Ihre Anlage war verdammt teuer und sah nicht aus, als gehörte sie ihnen. Und sie hatten diesen Blick in den Augen, der sagte: Wir werden alles hinwegfegen!“ Adam hatte Recht: Die Anlage war gestohlen (nach einem David-Bowie-Konzert), und tatsächlich sollte die Band binnen kurzem alles, was bis dahin als Popmusik galt, hinwegfegen. Vorläufig war davon jedoch noch nichts zu spüren: An der Spitze der Single-Charts löste in der ersten Novemberwoche David Bowies sechs Jahre alte „Space Oddity“ Art Garfunkels Version des 16 Jahre alten „I Only Have Eyes For You“ ab. Es dauerte noch Monate, bis es eine Möglichkeit gab, die neue Welle anders als in Live-Clubs zu erleben. Dann allerdings sollte eine knappe Minute im Fernsehen genügen, um eine ganze Nation umzukrempeln.

Aus dem Nichts?

Es war das herandämmernde Thatcher-England, das nach einem Katalysator für seine sozialen Spannungen suchte und ihn in den Sex Pistols und anderen Punks finden sollte. Denn die Szene jener Tage bestand aus Abba, ihren Klonen, einer verstiegenen Prog-Rock-Schickeria in Plastik-Elfenbeintürmen und der nicht endenden Flut von TV-beworbenen K-Tel-Billig-Compilations drittklassiger „Hits“ (die 1976 ein Drittel aller Plattenverkäufe ausmachten!). Keine Rede mehr von all den blumigen Ideen und Träumen, die die Sub-und Gegenkultur der 60er geprägt hatten. Stattdessen war aus der Popmusik, dem ureigenen Areal einer phantasievollen, unangepassten Jugend, ein globaler Kiosk geworden. Im Juni 1975 stellte der MELODY MAKER nüchtern fest: „Das Herz des Rock Traums ist eine Registrierkasse.‘

Die Pistols kamen nicht aus dem Nichts: Die gärende Unzufriedenheit mit einer Jugendkultur, die selbst dem Gutmütigsten sinnlos, leer und unbefriedigend erschien, hatte eine ganze Reihe neuer Bands aus den schmutzigen Straßen sprießen lassen, die als Pub-Rock-Revival kleine Clubs in rasende Saunen verwandelten. Die Musikindustrie blieb reserviert: Dr. Feelgood kamen mit einem mono (!) aufgenommenen Album in die Charts, aber andere, noch wüstere Neo-Rocker wie Eddie & The Hot Rods, die Stranglers oder Joe Strummers 101ers erschienen den Herren ein gutes Stück zu ungepflegt und unheimlich, um ihnen Eintritt in ihre Büros zu gewähren.

Und dann war da noch New York: Von dort waren 1972 die New York Dolls ausgezogen, um die Glam-Rock- Welle in eine explodierende Lawine von sexueller Freizügigkeit, künstlerischer Selbstbestimmung und -befreiung zu verwandeln und die Musik dorthin zurückzubringen, wo sie hingehörte: zu den Teenagern auf die Straße. Ihr Plan war grandios gescheitert, Untergrund blieb Untergrund, aber immerhin hatte Malcolm McLaren als „Berater“ der Band seine ersten Gehversuche in Sachen Pop-Situaüonismus unternommen. In New York erschien Ende Dezember 1975 auch das Wort „Punk“ zum wahrscheinlich ersten Mal „offiziell“: als Titel eines von den High-School-Freunden Legs McNeil und John Holmstrom herausgegebenen Fanzines.

Aber der Begriff war nicht neu. „Die Leute nannten uns Punks, seit wir zwölf waren „, erinnerte sich Steve Jones. „Uns“ waren nicht mehr wenige: Als McLaren im Herbst 1975 per Anzeige einen Gitarristen für die von ihm betreute Band suchte („Nicht älter als 20, nicht hässlicher als Johnny Thunders“) , meldete sich eine ganze Reihe junger Ausgeflippter, die Punk-Rocker werden wollten. Ihre Vorbilder waren Straßen- und Rebellen-Rocker vergangener Generationen. Das Pistols-Set der Anfangszeit umfasste Songs von den Small Faces, The Who, Count Five, The Creation, den Monkees. Johnny Rotten forderte vehement eine Abkehr von der Vergangenheit:

„Ich dachte: Scheiß auf die anderen. Ich will keine Coverversionen. Ich schreibe mein Zeug selber.“ Seinen kongenialen Songwriting-Partner fand er im Bassisten Glen Matlock. Die musikalischen Interessen der Band waren ein Schmelztiegel von Unvereinbarkeiten: Jones und Cook vergötterten Faces und New York Dolls, Rotten war ein Art-Rock-Freak mit einem Faible für Van Der Graaf Generator, Can und Captain Beefheart. Immerhin: Auf Bowie und Roxy Music konnte man sich einigen.“Malcolm kam mit diesen Postern aus den Staaten zurück“, sagte Matlock später. „Eines davon war von Television mit Richard Hell. Die sahen geil aus und hatten phantastische Songtitel wie, Blank Generation ‚. Da kam die Ideefür „Pretty Vacant“ her.“Die erste gemeinsame Komposition. Die Song-Quelle sprudelte nun: Lydon schrieb am Fließband Texte wie „Kill Me Today“ und „Seventeen“, die Matlock mit Harmonien versorgte; Steve Jones entdeckte ein Naturtalent für die Gitarre, und Paul Cook wurde zum stoischen Rückgrat der Band. Die hatte McLaren schon 1974, zur Zeit der ersten Gehversuche, Sex Pistols getauft, um für seinen Laden „Sex“ Reklame zu machen. Der Name wurde nach einigen Diskussionen eine Woche vor dem ersten Auftritt festgeschrieben. McLaren: „Ich war der Chef. Und ich wollte einen Haufen Hosen verkaufen.“

Und drüben…

Die anrollende Punkwelle in den USA unterschied sich in vielen Punkten von der englischen: Die Protagonisten waren älter, hatten zumeist schon Anfang der 7oer erfolglose musikalische Gehversuche unternommen. Die Stoßrichtung und ihr Hintergrund waren weniger homogen: Der Drei-Akkorde-Harmoniesturm der Ramones, Blondies Sixties-Bubblegum, der Groove-Minimalismus der Talking Heads, die verzweifelte Straßen-Knüppelei der Dead Boys, Televisions akademisch-nüchterne Romantik, der wüste Rock’n’Roll von Johnny Thunders‘ Heartbreakers, die lyrische Ekstase einer Patti Smith, sogar Mink de Ville und Tom Pettys netter Byrds-Pop erhielten das Etikett „Punk“ aufgeklebt. Über den Ozean hinweg gab es wenig Gemeinsamkeiten. Zwar waren Johnny Thunders und Jerry Nolan mit den Heartbreakers auf McLarens Rat hin nach London übergesiedelt, fassten dort aber nie richtig Fuß. „London sucks, man, it sucks!“, brüllte Dee Dee Ramone nach der ersten Tournee auf der Insel, und Gitarrist Johnny fügte hinzu: Johnny Rottenfragte:, Und? Was denkst du?’Ich sagte: Ich denke, ihr Kerle seid scheiße.‘ Er sagte: „Weißt du, ich denke, ihr seid auch scheiße.’Sie spielten fürchterlich, total unprofessionell. Vielleicht ist das so gewollt, aber in Amerika erwarten die Kids einen gewissen Standard.“

Die Amerikaner waren künstlerisch radikaler und vielfältiger, hatten aber nicht die geballte stilistische Wucht und soziale Relevanz, die Englands Punks so wirkungsvoll werden ließ und den Journalisten die Einordnung erleichterte. Oder, in den Worten von Johnny Ramone: „Wir singen fröhliche Songs, während die über ihre Arbeitslosigkeit singen. „Zugehört hat man sich trotzdem gegenseitig.

Die Bombe platzt…

1976 war ein schöner Sommer in England, der heißeste seit Menschengedenken.Und Dutzende neue Bands schössen aus dem Boden. Sie alle wollten die Welt verändern. Als Malcolm McLaren am 20. und 21. September im 100 Club das erste Punk-Festival organisierte (mit den Pistols, Subway Sect, Siouxsie &. The Banshees, Stinky Toys, Vibrators, Buzzcocks, Damned und Clash), geriet der Anlass zur ersten Heerschau der Bewegung: „Vorder Tür standen 500 Leute, die nicht mehr reinpassten. Es war das erste Mal, dass ich auf der Straße Punks sah, die ich nicht kannte“, sagte Jonh Ingham, Punk-Propagandist des MELODY MAKER. Hunderte Teenager ließen sich die Haare schneiden, warfen sich in Schock-Klamotten, die der von McLaren und seiner Lebensgefährtin Vivienne Westwood für ihren „Sex“-Laden und die Pistols entworfenen Kollektion aus Lumpen, grellem Neon-Glam, S/M -Anspielungen und provozierenden Accessoires wie Badges, Nadeln, Ketten und Hakenkreuzen nachempfunden waren, und gründeten Bands, die oft nur Stunden existierten.

Punk war, abgesehen von aller Musik, ein sozialer Brandsatz in einem gespaltenen Königreich. Auf der einen Seite die multikulturelle Alltagsgesellschaft mit einem Heer von Einwanderern, von denen eine Integration verlangt wurde, die sie angeblich nicht zu erbringen bereit waren. Auf deren Seite standen die Punks schon deshalb, weil sie Reggae und Carnival nach GB brachten. Auf der anderen Seite die eisigen Zwingburgen der Entfremdung, anonyme Wohnblocks, gesichtslose Fabrik-Moloche und eine Wirtschaft, die jede Integration, jede Rücksicht auf Bedürfnisse und Empfindlichkeiten der Menschen verweigerte. Dagegen begehrte Punk auf, und die Wirkung war zu spüren: „Die Welt hatte sich verändert“, sagte PUNK-Redakteurin Mary Harron. „Es lag Gewalt in der Luft, es war Gewalt auf den Straßen.“

Im Oktober unterschrieben die Sex Pistols bei der EMI, der altehrwürdigsten Plattenfirma der Welt. Kurz daraufnahmen sie mit „Dark Side Of The Moon“-Toningenieur Chris Thomas ihre erste Single auf. Programmatischer Titel: „Anarchy In The UK“. Es wurde Zeit, denn nun rollten die ersten „echten“ Punk-Platten in die Läden. The Damned bretterten mit „New Rose“ einem neuen Rock-Geschwindigkeitsrekord entgegen, und die australischen Saints hatten mit „I’m Branded“ eine Mischung aus Lärm und Verzweiflung röffendicht, die die Attitüde und den G eist des Punk dreieinhalb Minuten treffender auf den Punkt brachals alles vorher (und das meiste nachher). Dann lossen auch noch die Pub- Rocker Dr. Feelgood mit rem Livealbum „Stupidity“ aus dem Stand auf Platz is der LP-Charts.

Am 26. November erschien „Anarchy“ und landeten auf Platz 38 der Single-Charts. Die restliche Musik-Industrie reagierte in den folgenden Monaten mit einer Mischung aus Hysterie und Kaufrausch – während die Pistols einen Vertrag nach dem anderen unterschrieben, um sich nach dem nächsten Skandal mit einer fünfstelligen Abfindung wieder feuern zu lassen, wollte jeder sein Punk-Pferd im Stall haben. The Clash, am Vortag noch von Polydor umgarnt, landeten bei CBS, Polydor holte sich The Jam, Ultravox kam bei Island unter, 999 und die Stranglers bei United Artists, Billy Idols Generation X bei Chrysalis, die brators bei Epic und Wire bei der EMI . Andere gingen andere Wege: die Buzzcocks gründeten für ihre erste EP „Spiral Scratch“ ein eigenes Label. Independent-Plattenfirmen sprossen im Umfeld der Punk-Stars wie Pilze.

und trifft die Falschen

Ein Fernsehauftritt machte Punk zum politischen Thema: Am 1. Dezember sagten Queen ihre Teilnahme der TV-Talkshow „Today“ ab. Da die EMI den Auftritt fest gebucht hatte, suchte man nach Ersatz und lud die Pistols. Mitsamt Fans (darunter Siouxsie und Steve Severin von den Banshees) stellte sich die Band Moderator Bill Grundy, der es für eine gute Idee hielt, die freundlich herumalbernden Punks mit überheblichen Sprüchen zu provozieren. Rotten rutschte ein leises „Shit“ heraus, und als Grundy den Mädchen im Hintergrund schlüpfrige Angebote machte, explodierte Steve Jones und beschimpfte den Moderator unter dessen Anfeuerungsrufen („Du hast noch fünf Sekunden‘. Sag was Schlimmes!“) als „dirty old man“ und „dirty fucker“. Am Abend war die Sendung Gesprächsthema in allen Londoner Kneipen, aber der Wirbelsturm begann erst am nächsten Morgen mit massiven Schlagzeilen. „Ab diesem Tag war alles anders“, sagte Steve Jones rückblickend. „Davor ging es um Musik, jetzt ging es um die Medien.“ Die folgende Tournee mit Clash, Damned und den Heartbreakers geriet zur Farce; praktisch alle Auftritte wurden abgesagt, Konzerte waren nur noch unter Decknamen möglich (als The Spots = Sex Pistols On Tour Secretly).

Während die „Tour ohne Gigs“ noch lief, feuerte EMI die Pistols. Kurze Zeit später unterschrieben The Clash beim Konkurrenzriesen CBS, aber nicht das war der Grund dafür, dass nun innerhalb der verschworenen Ur-Punk-Gemeinde tiefe Risse sichtbar wurden. Es ging nicht mehr um Freundschaft, sondern um Karrieren; die Reporter verlangten nicht nur brutale Posen, sondern auch böse Sprüche über Kollegen. Viele Punks der ersten Stunde strichen verängstigt oder überdrüssig die Segel und wandten sich anderem zu: „Bill Grundy war für mich echt das Ende“, sagte Banshees-Gitarrist Marco Pirroni (später als Partner von Adam Ant erfolgreich). „Es war etwas Künstlerisches, Intellektuelles, mit verrückten Klamotten, und jetzt kamen die Kerle mit den Hundehalsbändern daher.“

No Future

Es war wie bei den meisten kulturellen Aufbrüchen: Die kreative „Elite“, mit der alles begonnen hatte, verlor die Kontrolle. Mittelmaß und kommerzielle Interessen, der Massenmarkt und seine Medien übernahmen die Führung. Gleichzeitig verlor die Musik ihr überraschendes Element: Bands wie LJK Subs und die Depressions verbanden den Arbeiter-R&B der Sixties mit knallharten Posen zu schlagkräftigen Hymnen, aber künstlerisches Neuland war damit nicht zu erreichen. In ihrem Gefolge knüppelten Brüllaffen wie die Cortinas und Chelsea auf uralten Klischees herum, die Jahre später über Bands wie Green Day und die Toten Hosen zum internationalen Punk-Standard werden sollten.

Malcolm McLaren sah seine Felle davonschwimmen und reagierte prompt: Wenn Skandale nicht mehr auffallen, müssen sie noch skandalöser werden. Am 7. Juni 1977, zeitgleich mit den Feiern zum 25-jährigen Thronjubiläum der englischen Königin, tuckert auf der Themse hinter dem Buckingham Palast eine Barkasse mit dem trefflichen Namen „Queen Elizabeth“ vorbei, von deren Oberdeck empörende Geräusche ertönen. McLaren hat das Boot gemietet, mit Journalisten und Fans gefüllt und mit riesigen Bannern an den Seitenwänden klargemacht, um was es geht: „Queen Elizabeth, the new Singleby the Sex Pistols: ,God Save The Queen'“. Um 21.30 Uhr betritt die Band eine improvisierte Bühne, und der Orkan bricht los. „Die Sex Pistols spielen um ihr Leben „, schreibt Punk-Chronist Jon Savage in sein Tagebuch. „Rottens ganzer Hass, seine Frustration und Verzweiflung fließen in einen Dampfkessel des Zorns, der aus der theatralischen Bagatelle etwas Massives werden lässt!‘ Als das Schiff das Parlament passiert, wird es von zwei Polizeibooten eingekreist. Während Rotten „No Fun“ mit einem monotonen „I´m alive! I´m alone! I´m alive!“-Mantra ausklingen lässt, dreht der Kapitän den Strom ab, dann stürmt die Ordnungsmacht die „Queen Elizabeth“, zwingt sie am Charing Cross Pier zur Landung und verhaftet elf Passagiere; die Band entkommt über eine Seitentreppe.

Aber nicht weit: „Bestraft die Punks“, fordert der SUNDAY MIRROR, und die „brave“ Bevölkerung empfindet die entfesselte Berichterstattung als Aufforderung zur Selbsthilfe. Aufgebrachte Bürger greifen zur Waffe: Johnny Rotten wird auf der Straße mit einem Rasiermesser angegriffen und an der linken Hand, Hüfte und Oberschenkel schwer verletzt, Paul Cook mit einer Eisenstange niedergeschlagen, die Band flieht nach Schweden.

Derweil verkauft sich „God Save The Queen“ sensationell gut: In der Woche des Krönungsjubiläums gehen 200.000 Stück über die Ladentische – doppelt so viel wie von Rod Stewarts „I Don’t Want To Talk About It“, das dank gezielter Manipulation durch die Industrie trotzdem auf Platz eins der Charts bleibt -Platz zwei ziert derweil ein leeres, weißes Feld, das für die Platte steht, deren Schlusschorus für alle Zeiten als definitiver Punk-Slogan ins kulturelle Weltgedächtnis eingeht: „No Future!“

Der Schlusspunkt?

Und dann, nach einem manischen, chaotischen Jahr, das den Übermut des Sommers ’76 vollständig vergessen ließ, nach Glen Matlocks Ersetzung durch den plakativ unmusikalischen Sid Vicious, nach Sensationen, Skandalen und Streiterei auf allen Ebenen, erschien am 28. Oktober 1977 das Testament der Punk-Revolte:“Never Mind The Bollocks‘,‘ jenes Album, das der amerikanische ROLLING STONE zehn Jahre später zum „second greatest Rock’n’Roll album of all times“ ernannte – das Album, mit dem alles beginnen sollte und mit dem doch alles endete. Es war ein letzter großer und schon als Geste absurder Schlag, ein Meisterwerk ohne Zukunft. Pop und die Welt haben sich von dem Schock nie mehr erholt.

Die bittere Ironie im Titel ist nicht zu überhören: ein Aufruf zum Tanz auf den Scherben, im sicheren Bewusstsein, dass die „Bollocks“ längst zu hegemonial, allgegenwärtig und selbstverständlich geworden sind, um sie zu ignorieren. Die Platte hatte einen programmatischen Anfang (das Marschieren vieler gestiefelter Füße), aber kein Ende. Das letzte „Problem!“, von Johnny Rotten stoisch ins verhallende Playback der Band hineinskandiert, als gehörte er längst nicht mehr dazu, lässt alles offen, unerklärt, unerfüllt – und markiert doch einen Schnitt in der Wirklichkeit. Im Oktober 1977 war die Revolte, die im Frühjahr 1976 unter dem Signet „Punk“ wie ein neonbunter Eissturm in die Pop-Welt hineingefahren war und am Ende nicht nur sie, sondern auch die Gesellschaft außenrum durcheinander gewirbelt hatte, vorbei. Zurück blieb betäubte Ratlosigkeit, versprengte Geister irrten in viele Richtungen davon, und in die kühle Wüste der 80er hallte Rottens „Problem!“ hinein – ohne Antwort, ohne Erfüllung, eine enigmatische Prophezeiung, die wie eine gigantische Rückprojektion alles hinterlegte, was seither geschah – selbst der Schuss, der 17 Jahre später Kurt Cobain tötete, war ein Echo.

Zurück nach vorne

Das Ende war kurz und schmerzvoll: „Bollocks“ triumphierte an der Spitze der Charts, aber die Band war nicht mehr zu retten. Zerrüttet von Sid Vicious‘ selbstmörderischer Drogensucht und Johnny Rottens galoppierender Unlust an McLarens strategischen Manövern fuhren die Sex Pistols Anfang 1978 nach Amerika, stürzten sich dort in den Krater des Vulkans, den sie selbst entzündet hatten – und implodierten sang- und klanglos. Ihr Manager schlachtete die Asche aus, so lange es ging – auf Platten und in dem Film „The Great Rock’n’Roll Swindle“, mit dem erden Eindruck zu erwecken versuchte, es habe sich bei der ganzen Sache um ein von Anfang an geplantes situationistisches Manöver zur Ad-absurdum-Führung des Pop-Business gehandelt. Pech, dass zu dessen Durchführung echte Menschen nötig waren.

Es war keineswegs alles zu Ende im Herbst 1977, aber die Entwicklung verlief sich nun in viele Richtungen. Ein Teil der neuen Gruppen fiel auf ihren eigenen Zynismus herein, inszenierte industrielle Kälte wie Tubeway Army oder dröhnende Massenbehämmerung wie Killing Joke. Andere wagten aus den Wirren heraus den Sprung in die Realität. The Clash schafften ihn, weil sie erkannten, dass der Moment, wo alle alten Rock-Mythen wie leere Papierhülsen im Rinnstein lagen, genau richtig war, um eben diese Mythen neu zu erfinden und mit sich selbst zu füllen – auf Fotos aus den Jahren ab 1978 lassen sie von Gene Vincent bis zu den Rolling Stones, von Hank Williams bis zu den New York Dolls alle vorangegangenen Pop-Rebellen wie Epigonen wirken – ein genialer Schwindel, der funktioniert, weil er keiner ist; diese vier Männer meinten es ernst. Auf der anderen Seite standen Wire – nicht weniger extrem, aber ohne jede Verbindung zu Traditionen und Mythen, es sei denn, man rechnet die vergessenen Abseitigkeiten gewisser Kraut-Rock-Pioniere wie Neu! dazu. Beide, Wire und The Clash, fanden einen Weg aus der Sackgasse; beide markieren Entwicklungslinien, die die folgenden Jahre so deutlich prägten, dass wirklich „Neues“ wenig Chancen hatte. Wire erfanden die 80er Jahre des Anti-Rock; selbst die extremsten Techno- und House-Phänomene reichen über ihre Vorgaben kaum hinaus. The Clash wiederum redefinierten den Rock ’n‘ Roll so umfassend und wirkungsmächtig, dass alles weitere immer nur einen Teil davon kopieren konnte. Und das Wort „Punk“? Das sprach von der ersten Generation ab Herbst 1977 niemand mehr öffentlich aus.