Prince und die 90er: Pop-Genie auf Sinnsuche
Die 90er-Jahre waren keine leichte Zeit für Prince. Das Jahrzehnt war geprägt vom Streit mit seiner ehemaligen Plattenfirma über die Rechte an seiner Musik. Aus dem Meister war ein Sklave geworden, aus dem Popwunderkind der 80er-jahre ein Sinnsuchender. „EMANCIPATION“ sollte 1996 den Neuanfang markieren. Es ist das Album, bei dem er zum ersten Mal in der Lage war, seine künstlerische Vision kompromisslos umzusetzen. Es ist aber auch ein Dokument der geplatzten Träume. Nun wird es erstmals angemessen gewürdigt.
„Sex In The Summer“ ist eines der Stücke, zu denen man tanzen möchte, die aber auch wegen ihres autobiografischen Inhalts stark berühren. Der Song erzählt von den ersten Lebenszeichen eines Menschen, der nie eine Chance haben würde. Prince synchronisiert darin einen HipHop-Rhythmus mit der Aufnahme des Herzschlags des ungeborenen Amiir. Garcia erinnert sich, dass Prince euphorisch gewesen sein soll, als er in der Arztpraxis erstmals die Herztöne des Babys hörte. Derart euphorisch, dass man ihm habe erklären müssen, dass er das Sonografiegerät nicht einfach mit in den Paisley Park nehmen könne, um damit in seinem Tonstudio zu experimentieren. Prince war aufgeregt, denn er wollte seinen Sohn unbedingt in seinem neuen Werk verewigen. Vielleicht wollte er auch ein Herzschlag-Sample verwenden, damit Amiir eine Erwähnung als Musiker bereits in die Wiege gelegt wird.
Prince und „My Computer“ mit Kate Bush
Ein weiterer Höhepunkt des Albums ist der Song „My Computer“, eine gemeinsame Aufnahme mit Kate Bush. Als Song Nummer neun auf Tonträger drei, also als Stück 33 von 36, wirkt er katastrophal deplatziert. Schließlich war diese Zusammenarbeit Bushs erstes musikalisches Lebenszeichen seit fast drei Jahren. Wie Prince galt die eineinhalb Monate jüngere Britin als zurückgezogen lebendes Genie, deren Traumwelt bewundert, aber nie ganz verstanden wurde. Kurz, sie waren die besten Musiker ihrer Generation. Kate Bushs Debütalbum THE KICK INSIDE erschien im Februar 1978, eineinhalb Monate vor dem Erstling von Prince, FOR YOU. Bei den Aufnahmen zu dem Song kam es nicht zu einem persönlichen Treffen. Die beiden schickten sich „My Computer“ als Datei über den Atlantik hin und her. Die Komposition stammte von Prince, Bush sang den Chor im Hintergrund. Sie revanchierte sich damit für einen Gefallen, den Prince ihr 1991 tat – damals ergänzte er ihren Song „Why Should I Love You?“ mit seiner Stimme. Kate Bush soll regelrecht erschrocken gewesen sein wegen dieser Bearbeitung, Prince fügte nicht nur seinen Gesang, sondern viele weitere Spuren mit Instrumenten hinzu; Kate Bush arbeitete das Lied um und brachte es erst zwei Jahre danach heraus.
„My Computer“ wurde eingeleitet durch die dieser Tage wunderbar antiquiert klingende, aber damals durchaus zu Vorfreude führende AOL-Computerstimme, die „You’ve got Mail!“ verkündet. Heute könnte das auch als Warnung durchgehen – damals aber wurden elektronische Postfächer noch nicht zugespammt. Das Lied drehte sich um ein Thema, das im 21. Jahrhundert größeren Raum einnehmen würde. „I scan my computer looking 4 a site“, singt Prince, „somebody 2 talk 2, funny and bright“. Es geht um das, worum sich heute noch viel mehr einsame Menschen auf der Suche nach Liebe bemühen: Kontaktaufnahme im Netz.
Thematisch war Prince also Vorreiter – der Tom-Hanks-Kassenerfolg „You’ve Got Mail“ kam erst zwei Jahre später ins Kino – aber für die musikalische Ausrichtung von EMANCIPATION ließ er sich durchaus vom Zeitgeist beeinflussen. Die Platte fügte sich in den R’n’B-Sound mit Rap-Einschlag der frühen bis mittleren 1990er-Jahre ein. Musik, die er nicht selbst beeinflusst hatte, sondern die vielmehr auf dem leidenschaftlich, aber sanft intonierten „Quiet Storm“-Genre der 70er-Jahre fußt. Prince blieb nicht unbemerkt, dass der Soulsänger R. Kelly mit seinen Schlafzimmer-Liedern mittlerweile als jene Autorität galt, die er selbst lange Zeit gewesen war, und die Michael Jackson in den 90ern gerne gewesen wäre. Prince fand aber sogar für die Gospel-Buben von Boyz II Men anerkennende Worte. Sein Biograf Matt Thorne, der mit dem Fan-Buch „Prince“ die beeindruckendste Biografie des Musikers vorgelegt hat, macht dennoch einen Unterschied zwischen ihm und seinen Epigonen aus. Gehe es in den Werken von R. Kelly meist ums „Gonna Get You Pregnant“-Herrschaftsdenken eines ungebundenen Trophäenjägers, sei Prince tatsächlich als fürsorglicher Familienvater in spe aufgetreten, der von ewiger Liebe sang.
Mayte Garcia erinnerte an jenen Satz, mit dem sich Prince über seine sinkende Bedeutung in den 1990er-Jahren hinwegtröstete: „Wenn du einen bestimmten Stellenwert erlangt hast, definieren sich die Menschen über dich – und kritisieren dich, wenn du etwas tust, das ihren Erwartungen widerspricht.“ Mit EMANCIPATION suchte Prince
die Herausforderung. Aber Kritik an seinem Werk blieb diesmal weitestgehend aus. Seine 180 Minuten nutzte er für Jams, und das konnte keinen kalt lassen. Gleichermaßen verfasste er Lieder, in denen er derart lange Texte, fast schon Manifeste (pro Familie, gegen Major-Labels) unterbrachte, dass er oft auf die gängige Strophe-Refrain-Struktur, die Hörgewohnheiten durch Wiederholungen bedient und somit Sicherheiten schafft, verzichtete.
Humor brachte Prince in seinen Songs vor allem codiert unter. In „Damned If Eye Do“ singt er, „I won’t do it like Kevin“. Damit konnte nach Fan-Meinung nur gemeint gewesen sein, dass er seiner Angebeteten niemals Urin als Getränk vorsetzen würde – wie Kevin Costner es im Endzeit-Actionfilm „Waterworld“ tat. Und es kann kein Zufall sein, dass die einprägsamsten, also einfachsten Stücke auf EMANCIPATION Coverversionen sind – sogar die ersten, die er überhaupt auf einem Album veröffentlichte. „Betcha By Golly Wow!“, 1975 von den Stylistics veröffentlicht, schob er als erste Single vor, nach dem Motto: Dies ist ein fremder Song, der mir gefällt, der schon mal erfolgreich war, und er soll halt in die Charts – meine eigenen Themen hört ihr euch dann bitte auf der Platte an.