Prince und die 90er: Pop-Genie auf Sinnsuche
Die 90er-Jahre waren keine leichte Zeit für Prince. Das Jahrzehnt war geprägt vom Streit mit seiner ehemaligen Plattenfirma über die Rechte an seiner Musik. Aus dem Meister war ein Sklave geworden, aus dem Popwunderkind der 80er-jahre ein Sinnsuchender. „EMANCIPATION“ sollte 1996 den Neuanfang markieren. Es ist das Album, bei dem er zum ersten Mal in der Lage war, seine künstlerische Vision kompromisslos umzusetzen. Es ist aber auch ein Dokument der geplatzten Träume.

Dies ist ein Archivklassiker vom Oktober 2019.
„Free at Last“, skandiert ein Chor, „am Ende sind wir frei“. Vier Trommler marschieren auf die Konzert-Bühne des Paisley Park, sie schlagen zur Stimme Martin Luther Kings auf ihre Instrumente ein, während das Publikum sie bejubelt. „Free At Last! Free at Last! Thank God Almighty, We Are Free At Last!“ Das Sample stammt aus der „I Have a Dream“-Rede des Pastoren und Bürgerrechtlers, der vom Ende der Unterdrückung der Schwarzen träumte. 1963 war das, in Washington D.C., King sprach am Lincoln Memorial vor 250.000 Menschen.
33 Jahre später spielt nun Prince die Rede Kings ein, als Teil seines Songs „Slave“, der augenblicklich in „Jam Of The Year“ überleitet. Und dann betritt er seine eigene Bühne, sichtlich gut gelaunt. Prince will eine „Befreiung“ feiern – mit dem sogenannten „Emancipation“-Konzert in seinem Arbeits- und Wohnkomplex in Minneapolis, anlässlich der Veröffentlichung seines gleichnamigen Albums. Amerikanische TV-Sender übertragen das Spektakel live. „Ich wurde geboren, um genau dieses Werk zu erschaffen“, sagt Prince nach diesem Abend des 12. November 1996. Er fühlt sich frei, weil er das EMANCIPATION-Album aufnehmen konnte, ohne die Wünsche einer Plattenfirma berücksichtigen zu müssen.
Prince hatte also einen Favoriten unter seinen 39 Studioalben, und der war erstaunlicherweise keines jener Werke, die in sämtlichen Kritikerlisten ganz oben stehen, PURPLE RAIN, 1999 oder SIGN O’ THE TIMES. Prince stellte EMANCIPATION unter dem Künstlernamen vor, den er sich ein Jahr vorher zulegte, und der sich nur als Sonderzeichen schreiben ließ. Aus Prince wurde das „Mann-Frau-Symbol“, das „Love Symbol“. Die Medien nannten ihn „The Artist Formerly Known As Prince“, abgekürzt „TAFKAP“ – beides aus Verlegenheit, denn Prince weigerte sich, dem Schriftzeichen einen Namen zu geben.
War das 19. Prince-Album EMANCIPATION ein Hit? Nein. Es verkaufte sich im ersten Jahr nach seiner Veröffentlichung nur 570 000 Mal. Die Vorabsingle „Betcha By Golly Wow!“ war in Großbritannien am erfolgreichsten, kratzte dort aber auch nur an der Top Ten, sie kam nicht höher als Platz elf. Und doch erfährt EMANCIPATION inzwischen seine Rehabilitierung: Es gilt als das Prince-Album, auf dem der Künstler seinen größten Mut und Durchhaltewillen bewies.
1996 zehrte Prince noch immer von seinem exzellenten Ruf, der vor allem auf Leistungen aus den 1980er-Jahren gründete. Das Album PURPLE RAIN hatte sich mehr als 20 Millionen Mal verkauft, der BATMAN-Soundtrack über zehn Millionen Mal. Aber Prince galt in den 90ern auch als einer der größten Pop-Exzentriker. Die Auseinandersetzungen mit seiner Plattenfirma waren legendär, und sie rieben ihn auf. Er bewerbe, so der Vorwurf, seine Werke zu wenig, veröffentliche zu viel Musik in zu kurzer Zeit, und seine Konzepte würde niemand verstehen. Für die schwindenden Albumverkäufe aber machte Prince wiederum sein Label verantwortlich. Ein Musiker in seinem Umfeld sagte: „Bis PURPLE RAIN war alles in Ordnung. Danach bekam er alles, was er sich je gewünscht hatte, und es gefiel ihm nicht.“
Jeder „Slave“ hat bekanntlich einen „Master“, und mit dem „Master“ war Warner gemeint
Die EMANCIPATION sollte nun den Neuanfang markieren. Nach 18 Jahren bei Warner Bros. Records war Prince frei, der Vertrag mit der Major-Plattenfirma erfüllt. Nun konnten die ersten Songs auf seinem eigenen Label NPG Records erscheinen. Nicht nur symbolisch, sondern tatsächlich sprengte der 38-Jährige auf dem Cover von EMANCIPATION seine Ketten, das Eisen flog dem Betrachter regelrecht entgegen. Im Booklet zeigte er seine rechte Wange, darauf der Schriftzug „Slave“ – „Sklave“. Jeder „Slave“ hat bekanntlich einen „Master“, und mit dem „Master“ war Warner gemeint. Es war ein Wortspiel: Die Firma hatte die Rechte an den Master-Bändern, also an seinen Aufnahmen. Entweder dir gehören die Master. Oder du gehörst einem Master. Ab jetzt würde Prince alles, was er herausbringen sollte, nur ihm gehören.
EMANCIPATION war jenes Album, das Prince ganz nach seinem Plan veröffentlichen konnte. Mit der Songliste, die ihm vorschwebte, und im Sound, der ihm passend schien. Und wie viel er mitzuteilen hatte: Das Werk umfasste drei CDs mit jeweils zwölf Songs und exakt 60 Minuten Länge. 180 Minuten Gesamtspielzeit. Zwar wurde die Platte kein Hit, dennoch wurde Prince in den USA mit Doppel-Platin für mehr als eine Million Verkäufe ausgezeichnet. Jedes verkaufte Album musste mit dem Faktor drei multipliziert werden, weil EMANCIPATION eben aus drei Tonträgern bestand. Dabei interessierten den Künstler solche Erfolge nur bedingt. Vielmehr konnte er sich jetzt den Traum erfüllen, der ihm neun Jahre zuvor, mit dem oftmals als größtes Album der Achtziger gefeierten SIGN O’THE TIMES, verwehrt geblieben war. Prince wollte das Album 1987 als Dreier-LP/CD herausbringen. Auf Druck seiner Plattenfirma wurde es zum Doppelalbum heruntergekürzt. Argument: Als 3er-Set wäre es im Handel zu teuer angeboten worden. Diese Vorgabe empfand Prince als Eingriff in seine Freiheit, als Zensur, und die hat er dem Label bis zum Ende seines Vertrags nicht verziehen.

Der Weg zu EMANCIPATION beschreibt einen einmaligen Reifeprozess. Keine zwei anderen Platten aus dem Katalog von Prince, der zwischen 1978 und 2016 auf gigantische Größe angewachsen war, dokumentierten eine derartige Entwicklung. Aus dem sexbesessenen Sänger wurde eine Dekade später ein verliebter Ehemann, der kurz vor der Familiengründung stand. 1987 brüllte er noch „I want to do it baby every day, all right / In a bed, on the stairs, anywhere, all right“. Wen er auf dem Bett, den Stufen, einfach überall beglücken wollte, war nicht wichtig. „It“ drehte sich nur um sein Ego. 1996 aber wünschte Prince sich „Let’s have a baby / What are we livin‘ for?“ Es ging um neue Prioritäten, die plötzliche Dringlichkeit eines Vermächtnisses – aber nicht eines, in dem noch immer er im Mittelpunkt stand, sondern eines, das in einem anderen Menschen weiterleben sollte.
Was ging plötzlich im Gefühlsleben von Prince vor? Die Geschichte von EMANCIPATION erwies sich nicht nur als die eines Musikers, der die Kontrolle zurückerlangte und nach seinem Weg suchte, seine Alben so umzusetzen, wie sie ihm vom ersten Gedanken an vorschwebten. EMANCIPATION ist aus zwei weiteren Gründen einzigartig. Es ist seine romantischste Platte. Einerseits. Andererseits ist sie mit Blick auf das, was sich kurz vor der Veröffentlichung am 19. November 1996 zutragen sollte, auch seine todtraurigste Platte geworden. Unfreiwillig, weil Prince über anstehende Elternfreuden sang – und bei den Aufnahmen nicht wissen konnte, dass auf das Glück bald eine Tragödie folgen würde. Im Rückblick sind Lieder wie „Friend, Lover, Sister, Mother/Wife“ schwer zu ertragen.
Sie war 16, er war 32
Am Valentinstag, dem 14. Februar 1996, er steckte gerade mitten in den Aufnahmen zum Album, trat Prince vor den Traualtar. Es war eine schnell anberaumte Hochzeit. Den Heiratsantrag hatte er kurz zuvor gemacht, am Telefon. Eine Villa auf einer Insel in der Sonne war auf die Schnelle nicht zu bekommen, also arrangierte er die Feier zu Hause im Paisley Park in Minneapolis, im kalten Winter von Minnesota. Seine Angetraute war die 22-jährige Mayte Garcia. Sie war Mitglied seiner Band The New Power Generation. Kennengelernt hatte er die Tochter puertoricanischer Einwanderer, als sie 16 war. Da war er 32. Garcia, seit Kindesalter begeisterte Tänzerin, ließ ihm während seiner „Nude Tour“ eine VHS-Kassette mit ihren Bauchtänzen zukommen. Prince war angetan und lud Mayte (und deren Mutter im Schlepptau) zu Konzerten ein. Es entwickelte sich eine Freundschaft, die von Gesprächen in Hotelzimmern nach seinen Gigs geprägt gewesen sein soll. In diesen vier Wänden war die Mutter nicht mehr anwesend. Die Eltern vertrauten Prince, öffentliche Auftritte mit der Minderjährigen wären dagegen undenkbar gewesen.
In ihrer im vergangenen Jahr erschienenen Autobiografie „The Most Beautiful Girl“ legt Garcia Wert auf die Feststellung, dass er ihr keine Avancen gemacht habe, solange sie noch nicht volljährig war. Ein gelegentliches Liebespaar wären sie damit frühestens von 1991 an gewesen. Gewisse Freiheiten waren dem Liebhaber weiterhin zuzustehen. Das Image von Prince als Verführer, der nichts anbrennen ließ, hatte noch Bestand. Mit der Eheschließung und dem Willen zur Treue wollte er sich nicht nur als Mensch, sondern auch als Musiker neu positionieren. Mayte bezeichnete er als seine Seelenverwandte, das EMANCIPATION-Album sollte ihr gewidmet sein. Er komponierte es für sie – und für seinen ungeborenen Sohn Amiir.
„Amiir“ stammt aus dem Arabischen und bedeutet „Geschenk Gottes“ oder „Prinz“. Auf den mehr oder weniger naheliegenden Namen kamen Mayte und Prince in einer ihrer Sessions, in denen er seine Frau angeblich hypnotisiert hatte. Amiirs Geburtstermin war für den November angesetzt. Er musste jedoch per Kaiserschnitt schon am 16. Oktober geholt werden. Erst bei der Geburt des Jungen wurde festgestellt, dass das Kind unter dem Pfeiffer-Syndrom litt – ein Gendefekt, der zu Fehlbildungen am Körper sowie lebensbedrohlichen Fehlbildungen in den Organen führt. Amiir kam auf die Welt, und er litt augenblicklich unter seinem Leben. Falls er auch ohne Beatmungsgerät leben könne, legten Prince und Mayte fest, dann sei das Gottes Wille. Falls nicht, dann auch. Das Beatmungsgerät wurde nach sechs Tagen abgestellt. Amiir starb sieben Tage nach seiner Geburt. Prince ist seit dreieinhalb Jahren tot, er kann nicht mehr über diese Krise berichten und hat es damals auch nicht getan. In ihren Memoiren skizziert Garcia eher das Bild eines Ehemannes, der, gerade nach dem Tod des Jungen, zwischen religiös motivierter Schicksalsergebenheit und kompletter Überforderung als Partner changierte. Eine von den Ärzten dringend angeratene Fruchtwasseruntersuchung, die auf den Gendefekt Amiirs hätte hinweisen können, habe er verhindert: „Was auch passieren wird, es liegt in Gottes Hand.“
Prince plante ein Konzeptalbum mit Happy End als Vater und Ehemann – und dann kam ihm das echte Leben in die Quere
Die Eheleute entfremdeten sich bereits, als EMANCIPATION, die Familien-Chronik, rund einen Monat später veröffentlicht wurde. Schon zwei Tage nach Amiirs Tod gab Prince ein Konzert. Es war wohl seine Art zu trauern. Später fand Mayte Weinlachen und Erbrochenes auf den Fußböden seiner Gemächer. Sein Musikerleben lang strebte Prince nach Kontrolle, und auch seine Vision für diese Platte war unverrückbar. Prince, der in einer Märchenwelt zu residieren schien, plante ein Konzeptalbum mit Happy End als Vater und Ehemann – und dann kam ihm das echte Leben in die Quere. Niederlagen sollten darin keinen Platz haben.

Prince war kamerascheu, aber er gab einige wenige Interviews. Das erschütterndste fand im Rahmen der EMANCIPATION-Promotion statt, eine Woche nach Amiirs Tod. Prince wollte den lange geplanten TV-Termin mit Oprah Winfrey, die mit ihrer Talkshow die Nummer eins des Landes war und ein Millionenpublikum vor den Bildschirm holte, nicht absagen.
Zu diesem Zeitpunkt wusste die Öffentlichkeit schon, dass sein Kind geboren wurde. Aber noch nicht, dass es tot war.
Nun also der Hausbesuch. Mayte und er saßen im Paisley Park Winfrey gegenüber. Beide trugen weite, weiße Oberteile, als kämen sie direkt aus dem Krankenhaus. Mayte sah verständlicherweise noch sehr angeschlagen aus. „So muss es sich anfühlen, wenn ein Leichnam in einem Begräbnisinstitut aufgehübscht wird“, notierte sie später über ihren Auftritt, dem sie sich anfangs habe verweigern wollen.
Das rund 45-minütige Special, man findet es auf YouTube, ist grausam anzusehen. „Wie geht’s?“ – „Es könnte nicht besser laufen!“ Oprah Winfrey sprach Gerüchte an, die besagten, dass es bei der Geburt des Jungen zu Komplikationen gekommen sei, dass er verstorben sei. Prince antwortete, die Familie „existiere“, man befände sich „noch ganz am Anfang“, und die Familie solle noch größer werden, also: „höre nicht auf das, was die Leute sagen“. Dann zeigte er Winfrey das für Amiir eingerichtete, in blaues Licht getauchte Kinderzimmer.
Prince konnte der Talkmasterin kaum in die Augen sehen. Aber er blieb wie immer Profi, wenn es nicht ums Private, sondern um seine Künstlerpersönlichkeit ging. Er hatte einige Witze vorbereitet. Die trockenen Sprüche hatten nichts mit der Familiensituation zu tun, sondern mit seinem „Love Symbol“-Moniker. Ein sicheres Feld. „Die Sache mit dem Synonym hat sich verselbstständigt“, sagte er scheinbar erstaunt. Ich habe gehört, man nennt Diana mittlerweile ‚The Artist formerly known as Princess‘“. Lachen im Saal. Oder: „Der Vorteil an meinem unaussprechlichen neuen Namen ist, dass mich die Leute zum ersten Mal in meinem Leben mit ‚Sir‘ anreden müssen.“
Eine Woche nach der Oprah-Groteske begann die entscheidende Werbe-Phase für EMANCIPATION. Prince gab sein Konzert im Paisley Park, bei dem er neben den neuen Stücken auch lange von ihm ignorierte Klassiker wie „Purple Rain“ spielte. Dann wurde das Video zu „Betcha By Golly Wow!“ veröffentlicht. Darin besucht Prince Mayte im Kreißsaal und streichelt glücklich ihren Bauch. Sie war wieder die Hochschwangere – eine Inszenierung, der Clip entstand nicht vor der Geburt, sondern nach dem Tod ihres Sohns. Das Paar gab die Hoffnung auf Nachwuchs nicht auf. 1997 erlitt Garcia jedoch eine Fehlgeburt. Zuvor soll Prince sich wieder gegen eine Fruchtwasseruntersuchung ausgesprochen haben. Im Jahr 2000 wurde die Scheidung rechtskräftig.
Mit dem heutigen Wissen um diese Tragik wird EMANCIPATION noch bedeutsamer. Das Album war ein Dokument der Hoffnung, falls man es bei Erscheinen im November 1996 gehört hatte und noch nicht wusste, dass das Baby kurz nach der Geburt verstorben war. Heute wissen wir: Es ist ein Dokument der geplatzten Träume.
„Sex In The Summer“ ist eines der Stücke, zu denen man tanzen möchte, die aber auch wegen ihres autobiografischen Inhalts stark berühren. Der Song erzählt von den ersten Lebenszeichen eines Menschen, der nie eine Chance haben würde. Prince synchronisiert darin einen HipHop-Rhythmus mit der Aufnahme des Herzschlags des ungeborenen Amiir. Garcia erinnert sich, dass Prince euphorisch gewesen sein soll, als er in der Arztpraxis erstmals die Herztöne des Babys hörte. Derart euphorisch, dass man ihm habe erklären müssen, dass er das Sonografiegerät nicht einfach mit in den Paisley Park nehmen könne, um damit in seinem Tonstudio zu experimentieren. Prince war aufgeregt, denn er wollte seinen Sohn unbedingt in seinem neuen Werk verewigen. Vielleicht wollte er auch ein Herzschlag-Sample verwenden, damit Amiir eine Erwähnung als Musiker bereits in die Wiege gelegt wird.
Prince und „My Computer“ mit Kate Bush

Ein weiterer Höhepunkt des Albums ist der Song „My Computer“, eine gemeinsame Aufnahme mit Kate Bush. Als Song Nummer neun auf Tonträger drei, also als Stück 33 von 36, wirkt er katastrophal deplatziert. Schließlich war diese Zusammenarbeit Bushs erstes musikalisches Lebenszeichen seit fast drei Jahren. Wie Prince galt die eineinhalb Monate jüngere Britin als zurückgezogen lebendes Genie, deren Traumwelt bewundert, aber nie ganz verstanden wurde. Kurz, sie waren die besten Musiker ihrer Generation. Kate Bushs Debütalbum THE KICK INSIDE erschien im Februar 1978, eineinhalb Monate vor dem Erstling von Prince, FOR YOU. Bei den Aufnahmen zu dem Song kam es nicht zu einem persönlichen Treffen. Die beiden schickten sich „My Computer“ als Datei über den Atlantik hin und her. Die Komposition stammte von Prince, Bush sang den Chor im Hintergrund. Sie revanchierte sich damit für einen Gefallen, den Prince ihr 1991 tat – damals ergänzte er ihren Song „Why Should I Love You?“ mit seiner Stimme. Kate Bush soll regelrecht erschrocken gewesen sein wegen dieser Bearbeitung, Prince fügte nicht nur seinen Gesang, sondern viele weitere Spuren mit Instrumenten hinzu; Kate Bush arbeitete das Lied um und brachte es erst zwei Jahre danach heraus.
„My Computer“ wurde eingeleitet durch die dieser Tage wunderbar antiquiert klingende, aber damals durchaus zu Vorfreude führende AOL-Computerstimme, die „You’ve got Mail!“ verkündet. Heute könnte das auch als Warnung durchgehen – damals aber wurden elektronische Postfächer noch nicht zugespammt. Das Lied drehte sich um ein Thema, das im 21. Jahrhundert größeren Raum einnehmen würde. „I scan my computer looking 4 a site“, singt Prince, „somebody 2 talk 2, funny and bright“. Es geht um das, worum sich heute noch viel mehr einsame Menschen auf der Suche nach Liebe bemühen: Kontaktaufnahme im Netz.
Thematisch war Prince also Vorreiter – der Tom-Hanks-Kassenerfolg „You’ve Got Mail“ kam erst zwei Jahre später ins Kino – aber für die musikalische Ausrichtung von EMANCIPATION ließ er sich durchaus vom Zeitgeist beeinflussen. Die Platte fügte sich in den R’n’B-Sound mit Rap-Einschlag der frühen bis mittleren 1990er-Jahre ein. Musik, die er nicht selbst beeinflusst hatte, sondern die vielmehr auf dem leidenschaftlich, aber sanft intonierten „Quiet Storm“-Genre der 70er-Jahre fußt. Prince blieb nicht unbemerkt, dass der Soulsänger R. Kelly mit seinen Schlafzimmer-Liedern mittlerweile als jene Autorität galt, die er selbst lange Zeit gewesen war, und die Michael Jackson in den 90ern gerne gewesen wäre. Prince fand aber sogar für die Gospel-Buben von Boyz II Men anerkennende Worte. Sein Biograf Matt Thorne, der mit dem Fan-Buch „Prince“ die beeindruckendste Biografie des Musikers vorgelegt hat, macht dennoch einen Unterschied zwischen ihm und seinen Epigonen aus. Gehe es in den Werken von R. Kelly meist ums „Gonna Get You Pregnant“-Herrschaftsdenken eines ungebundenen Trophäenjägers, sei Prince tatsächlich als fürsorglicher Familienvater in spe aufgetreten, der von ewiger Liebe sang.

Mayte Garcia erinnerte an jenen Satz, mit dem sich Prince über seine sinkende Bedeutung in den 1990er-Jahren hinwegtröstete: „Wenn du einen bestimmten Stellenwert erlangt hast, definieren sich die Menschen über dich – und kritisieren dich, wenn du etwas tust, das ihren Erwartungen widerspricht.“ Mit EMANCIPATION suchte Prince
die Herausforderung. Aber Kritik an seinem Werk blieb diesmal weitestgehend aus. Seine 180 Minuten nutzte er für Jams, und das konnte keinen kalt lassen. Gleichermaßen verfasste er Lieder, in denen er derart lange Texte, fast schon Manifeste (pro Familie, gegen Major-Labels) unterbrachte, dass er oft auf die gängige Strophe-Refrain-Struktur, die Hörgewohnheiten durch Wiederholungen bedient und somit Sicherheiten schafft, verzichtete.
Humor brachte Prince in seinen Songs vor allem codiert unter. In „Damned If Eye Do“ singt er, „I won’t do it like Kevin“. Damit konnte nach Fan-Meinung nur gemeint gewesen sein, dass er seiner Angebeteten niemals Urin als Getränk vorsetzen würde – wie Kevin Costner es im Endzeit-Actionfilm „Waterworld“ tat. Und es kann kein Zufall sein, dass die einprägsamsten, also einfachsten Stücke auf EMANCIPATION Coverversionen sind – sogar die ersten, die er überhaupt auf einem Album veröffentlichte. „Betcha By Golly Wow!“, 1975 von den Stylistics veröffentlicht, schob er als erste Single vor, nach dem Motto: Dies ist ein fremder Song, der mir gefällt, der schon mal erfolgreich war, und er soll halt in die Charts – meine eigenen Themen hört ihr euch dann bitte auf der Platte an.
Die letzte Zündstufe der EMANCIPATION-Promo war die Tournee. 1997 ging Prince auf „Jam Of The Year“-Konzertreise. Doch je mehr Auftritte er gab, desto mehr aktuelle Stücke verschwanden von der Setliste. Mayte Garcia glaubt, dass es zunehmend schmerzhaft für ihn gewesen sein muss, Lieder übers Elternglück zu singen.
Auf EMANCIPATION folgte die längste Veröffentlichungspause, die Prince sich bis dahin leistete. Erst 1998 erschien das Album NEWPOWER SOUL seiner Band The New Power Generation. De facto ein Prince-Album, aber ohne die explizite Nennung seines Namens. Er wollte in Deckung bleiben. Im selben Jahr kam Crystal Ball heraus, eine Sammlung unveröffentlichten Materials aus seiner sagenumwobenen Schatzkammer „The Vault“. Neu in dieser Kollektion war CD vier, das Akustik-Album THE TRUTH. Darauf singt er „Walking up the stairs / Just the afternoon / Sweet wind blew / Not a moment 2 soon / I cry when I realized / That sweet wind was U“. Der Wind war Amiir, und der Song hieß „Comeback“. „Never say the words they’re gone / They’ll come back“. Er glaubte an das Jenseits und an ein Wiedersehen.
Sein eigenes Comeback sollte er schon bald darauf feiern. Anfang des Jahrtausends legte er den „Love Symbol“-Namen ab und wurde wieder Prince. Das MUSICOLOGY-Album erklomm im Jahr 2004 die Top 5 in etlichen Ländern und erhielt zwei Grammys. Aus Prince, dem Wunderkind der 1980er, und Prince, dem Sinnsucher der 1990er, wurde Prince, die lebende Legende der 2000er. Noch im selben Jahr wurde er in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen – der frühestmögliche Zeitpunkt, denn für einen Platz in der Ruhmeshalle des Rock müssen mindestens 25 Jahre seit der ersten Veröffentlichung vergangen sein, und seine erste Platte erschien 1978.Ein Vierteljahrhundert nach seinem Debütalbum war jedem bewusst, dass Prince niemals einen Nachfolger haben würde, seine Fußstapfen waren einfach zu groß. Auch deshalb wurde er fortan als Ausnahmekünstler behandelt, egal welche kuriosen Platten auch immer er vorlegen würde. Songs des monumentalen EMANCIPATION wollte Prince da schon lange nicht mehr singen.
Geboren wurde Prince vielleicht wirklich, um genau dieses Werk zu erschaffen. Aber er schloss damit ab. Und daran hielt er sich, bis zu seinem Tod im April 2016.
Chaos and Disorder: Prince in den 90er-Jahren
Im Überblick: das Jahrzehnt, in dem Prince mit sich, seinem Namen und der Welt haderte
1990
Schlechter Start ins Jahrzehnt. Prince veröffentlicht Film und Soundtrack zu „Graffiti Bridge“: der PURPLE RAIN-Nachfolger floppt, im Kino wie in den Album-Charts.
1991
Spät, aber nicht zu spät, erkennt Prince HipHop als Stilrichtung an. Er traut sich noch nicht selbst zu rappen, Anthony Mosley alias Tony M. greift in Songs wie „Gett Off“ zum Mikro. Das Album DIAMONDS AND PEARLS wird zu seinem letztem Mega-Hit, „Cream“ seine fünfte und letzte Nummer eins in den US-Charts.
1992
Prince schlägt Michael Jackson und Madonna: Der 100-Millionen-Dollar-Deal mit Warner Bros. Records ist der höchstdotierte seiner Zeit. Das erste Album, LOVE SYMBOL bleibt prompt hinter den Verkaufserwartungen zurück.

1993
Prince beginnt seinen Streit mit Warner und legt sich als Künstlernamen das unaussprechliche Symbol zu – sein Label reagiert verzweifelt und verschickt Disketten mit der Symbol-Typografie, damit das Sonderzeichen in Artikeln gedruckt werden kann. Beim Festival „Rock Over Germany“ gibt Prince seine für einige Jahre letzten offiziellen Konzerte in Deutschland. In Lüneburg soll er von den Veranstaltern gefordert haben, zum Schutz vor Fans einen Wassergraben vor der Bühne zu errichten. GOLDNIGGA heißt das erste Album, das nicht unter seinem, sondern dem seiner Band erscheint: The New Power Generation. Die HipHop-Platte ist heute schwer erhältlich.
1994
Prince malt sich „Slave“ auf die rechte Wange. Das Cover seiner bis dato schlechtesten Platte, COME, ziert die Inschrift „Prince 1958-1993“. Grabesstimmung. Das legendäre BLACK ALBUM, 1987 eingespielt und damals in letzter Sekunde vom Markt genommen, wird veröffentlicht. Sieben Jahre später erscheint es wie ein Relikt aus magischen Zeiten.
1995
Die Kassette THE VERSACE EXPERIENCE mit Song-Remixen wird bei der Pariser Fashion Week verteilt, später erscheint das Album THE GOLD EXPERIENCE – mit „The Most Beautiful Girl In The World“, von dem mehrere Gespielinnen behaupten, Prince hätte den Song exklusiv für sie geschrieben. Es ist seine erste – und letzte – Nummer eins in den britischen Single-Charts. EXODUS heißt die zweite Platte der New Power Generation, eine Hommage an George Clinton.
1996
Um seinen Vertrag mit Warner zu erfüllen, nimmt er das Funkrock-Album CHAOS AND DISORDER auf. Es wird dank seiner Kürze, Spontaneität und Egal-Haltung
ironischerweise die überzeugendste Platte der „Love Symbol“-Phase. Im Herbst erscheint schließlich das Dreifach-Album EMANCIPATION beim eigenen Label NPG Records.
1997
Einzige Veröffentlichung des Jahres: das Instrumental-Album KAMASUTRA als limitierte Kassette. Hochtrabend unter dem Namen „NPG Orchestra“ gelistet und uraufgeführt bei der Hochzeit mit Mayte Garcia.
1998
Unter dem irreführenden Namen CRYSTAL BALL erscheint nicht das gleichnamige sagenumwobene verlorene Album aus dem Jahr 1987, sondern eine Fünffach-CD mit Stücken aus verschiedenen Schaffensperioden von Prince, darunter das Akustik-Gitarren-Album THE TRUTH. Der schlechte Ruf der Vertriebsabteilung des Paisley Park wurde damit begründet: Einige Fans, die das Werk ein Jahr vor Veröffentlichung schon bestellen konnten, erhielten es erst Monate nachdem es bereits im regulären Handel war. Das dritte und letzte Album der New Power Generation erscheint: NEWPOWER SOUL, diesmal ehrlicherweise mit ihrem Boss Prince auf dem Cover.
1999
„Love Symbol“ unterschreibt für ein Album beim Major-Label Arista und veröffentlicht das mittelmäßige RAVE UN2 THE JOY FANTASTIC“. Um ihm das Wasser abzugraben, bringt Warner drei Monate vorher das Archiv-Album THE VAULT: OLD FRIENDS 4 SALE auf den Markt – der Titel ist eine Anspielung auf den legendären Song-Schatzraum „The Vault“ im Paisley Park. Ebendort lässt Prince das Jahrzehnt mit einem Konzert ausklingen. Es wirkte so, als hätte der Künstler nie Probleme gehabt, seine Vergangenheit als Prince mit seiner Gegenwart als „Love Symbol“ zu versöhnen. Er holte Lenny Kravitz, George Clinton und The Time auf die Bühne und stellte alten Hits wie „U Got The Look“ neues Material wie „The Greatest Romance Ever Sold“ gegenüber.
Prince und seine rechte Hand: ein junger Deutscher mit Mütze
Von 1996 bis zum Jahr 2000 war er als „Personal Engineer“ die rechte Hand von Prince im Studio: Hans-Martin Buff. Der damals 27-jährige gebürtige Garmisch-Partenkirchener studierte Publizistik in Berlin, arbeitete dann als Journalist in Deutschland und machte schließlich eine Ausbildung als Toningenieur in Minneapolis. Als wichtigste Hilfskraft hinter den Reglern trat er die Nachfolge von heute kultisch verehrten Koryphäen wie Susan Rogers und Don Batts an.
Hans-Martin Buff war seit den frühen Neunzigern bereits Assistent eines Prince-Toningenieurs im Paisley Park. Er werkelte gerade am Mischpult herum, als der Meister das Studio betrat, Instrumente einrichtete und ihn beiläufig fragte: „Hast du diese Woche etwas Zeit?“ Aus dem bisschen Zeit entstand eine Kooperation, die vier Jahre Bestand haben würde – eine rekordverdächtige Zeit, da nur die härtesten Toningenieure es länger als ein Jahr an der Seite des Tag- und Nachtarbeiters aushielten, der zu seinen Leuten genauso streng war wie zu sich selbst. Buff sagt, er war nonstop auf Stand-by. Freizeit hätte es nur dann geben können, wenn Prince ihn nicht zu sich beorderte – und das ließ sich nicht voraussehen. Der Pager, über den Prince sich meldete, hätte jederzeit sein Signal senden können.
„Mit Prince zu arbeiten, war wie in einem Boot Camp“, erzählt Buff. „Es konnte unbeschreiblich hart sein. Aber: Diese Ausbildung lehrte mich alles, was ich fürs Berufsleben brauchte.“ Prince erschien ihm damals wie eine Mischung verschiedener Persönlichkeiten. „Er war Charlie Chaplin, was Witz und Charisma betraf. Mozart hinsichtlich seines musikalischen Genies. Und Michael Corleone, der mächtige ‚Pate‘, was die Umgangsformen angeht – auch wenn Prince niemanden ermorden ließ!“ Die Zusammenarbeit erwies sich als produktiv, aber schwierig. „Ohne Frage war er ein Ausnahme-Musiker. Aber in Bezug auf die Verbalisierung seiner musikalischen Vorstellungen war er wahrscheinlich einer der schlechtesten Künstler, mit denen ich je gearbeitet habe“, erzählt Buff. Prince sei eine Art Micro-Manager gewesen. „Es gab bei ihm kein ‚das soll klingen wie, damit es wie dieses und jenes rüberkommt‘. Er sagte: ‚Nimm die linke Hand. Lege den Finger auf diesen Knopf und drehe ihn dann zwei Zentimeter nach links.‘ Prince hat dann an den Reglern mitgedreht – ob’s gut war, oder nicht.“
Wie ernst der Chef seine Arbeit nahm, zeigte sich für Buff auch in dessen Erscheinungsbild. Es gibt Musiker, die mit ihrer Alltagskleidung auf die Bühne gehen – Prince dagegen machte es genau umgekehrt, trug seine Bühnenkostüme auch im Privaten. „Der Schriftzug ‚Slave‘ zierte auch dann seine Wange, wenn wir alleine im Studio waren.“
Buff glaubt, dass EMANCIPATION einen besonderen Platz in der Prince-Diskografie einnimmt: „Es gibt sogenannte Erwachsenen-Platten. Paul McCartneys TUG OF WAR oder John Lennons DOUBLE FANTASY. Die sind vielleicht nicht super-spannend. Aber aus ihnen spricht die Souveränität eines Künstlers, der um den Block gegangen ist, und der weiß, was er will. Und so eine ist EMANCIPATION auch.“
Mit EMANCIPATION in die Guerilla-Phase
Ab dem Jahr 2000 trennten sich die Wege von Prince und Buff. Sie hatten alles gemeinsam erreicht, was zu erreichen war. „Betrachtet man es negativ, könnte man sagen: Er brauchte einen neuen Clown, und ich einen neuen Zirkus. Positiv betrachtet: Jeder von uns beiden musste etwas Neues tun.“ Er habe bemerkt, dass seine Begeisterung ein wenig nachließ. Alles, was Prince ab EMANCIPATION bis zu seinem Tod 20 Jahre später veröffentlichte, sagt Buff, seien Produkte der „Guerilla-Phase“ gewesen: Aus dem PURPLE RAIN-Kid, der einfach nur sein Ding macht, und dem späteren DIAMONDS AND PEARLS-Hochglanz-Rockstar, der seinen Status auslebte, wurde ein Künstler, der mit seiner Vergangenheit abschloss. Dazu gehörte auch, dass Prince, der vermeintliche Familienvater, den dirty talk endgültig ablegte: „Wir hatten ein ‚Swear Jar‘, also ein ‚Fluchglas‘: Jeder, der ein ‚Fuck‘ aussprach, musste fünf Dollar dort einwerfen.“ Im Song „Style“ brachte Prince die neue Philosophie auf den Punkt: „Style is a clean mouth.“
Hans-Martin Buff sagt, über den Trauerfall in Prince‘ Familie, den Tod seines Sohns Amiir sieben Tage nach der Geburt, wurde er nicht informiert. Aber das sei auch nicht nötig gewesen. „Ich wusste, dass seine Frau Mayte schwanger war. Und ich wusste, dass sie plötzlich ins Krankenhaus musste.“ Dann habe Prince, der ihn sonst täglich zu sich bestellte, sich drei Tage lang nicht gemeldet. „Als endlich der Anruf kam, eilte ich zum Paisley Park, um weiterzuarbeiten. Prince war nichts anzumerken. Mayte war auch da. Aber sie war eben nicht mehr schwanger.“