Von schwulem Country bis freidrehendem Jazz: 6 von unzähligen neuen Trends im Pop 2019
Hier findet Ihr sechs von ungefähr 60 neuen Entwicklungen in der Popmusik, die uns 2019 besonders auffielen.
4. EXTRAVAGANZA FÜR ALLE
Avantgarde und Dubstep leben im Mainstream weiter.
Anfang Dezember veröffentlichte der New Yorker Künstler, Journalist, Musiktheoretiker und selbsternannte „Rhythmanalyst“ DeForrest Brown Jr. relativ unbemerkt von der breiten musikhörenden Öffentlichkeit das Album OF DESIRE, LONGING seines Projekts Speaker Music. Darauf sind zwei LP-Seiten-lange Tracks mit einer elektro-akustischen Extravaganza zu hören. Ein Saxofon, das scheinbar im Nebenraum aufgenommen wurde, improvisiert über stolpernde, dekonstruierte Percussion-Sounds, die ständig in Bewegung sind. Bemerkenswert, dass das Album auf dem englischen Label Planet Mu erschienen ist, das in den Zehnerjahren entschieden zur Weiterentwicklung von Dubstep, Bassmusik und Footwork beigetragen hat. Die Musik von Speaker Music aber hat mehr zu tun mit der von Free-Music-Ensembles wie AMM oder Ennio Morricones Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza. Die Avantgarde, so schien es, hatte die zeitgenössische elektronische Musik und ihre Hauptlabels übernommen.
2019 wurde eine Reihe von Alben veröffentlicht, auf denen scheinbar mühelos die Ästhetik der diversen Bassmusiken mit avantgardistischen Strukturen und Pop- Sensibilität verbunden wurde: MAGDALENE von FKA Twigs, ATHENA von Sudan Archives, BLOOD von Kelsey Lu, LOOK UP SHARP von Carla Dal Forno. Songs müssen von ihrer Struktur her keine Songs mehr (FKA Twigs), Cello (Kelsey Lu) und Violine (Sudan Archives) dürfen die Hauptinstrumente einer Künstlerin sein. MAGDALENE von FKA Twigs etwa ist ein Musterbeispiel für die Verbindung von avantgardistischem Pop, Neuer Musik und Kunstlied.
Was früher neu und ungewöhnlich war, ist heute normal. Die Schuld an dieser sanften Mainstreamisierung von Post-Dubstep und Avantgarde trägt der unvermeidliche James Blake. Er hatte Anfang des Jahrzehnts die damals neue Soundästhetik popularisiert, und nachdem er als Feature oder Co-Produzent bei Songs von Beyoncé, Frank Ocean, Jay-Z oder André 3000 aufgetreten war, wollten alle so klingen wie er.
Jochen Overbeck
5. COUNTRY WIRD KOMISCH
Ein traditionell konservatives Genre öffnet sich neuen Einflüssen.
Gerade ist es Justin Bieber, der die Dinge durcheinander wirbelt. Er ist Feature-Star auf „10,000 Hours“, einer Single des Duos Dan + Shay. Gemeinsam stimmen die drei auf dem Nummer-eins-Hit der Billboard Country Charts ein Hohelied auf die Liebe an. Es ist nicht die einzige Veröffentlichung in dem Genre, die zeigt: Das eigentlich so statische, von den Wünschen konservativer Radio-Sender bestimmte Country Game ist in eine ähnliche Bewegung geraten wie Pop vor zehn Jahren. Einflüsse aus R’n’B und HipHop spielen plötzlich bei den Produktionen eine Rolle, die Hautfarbe wird unwichtiger.
Mit Jimmie Allen und Kane Brown haben gleich zwei Stars eine dunklere Haut. Und: Auch „Old Town Road“, der Riesenhit von Lil Nas X., tauchte als Erstes in den Country-Charts auf – aus den ihn Billboard, als sich seine Durchschlagskraft abzeichnete, rasch entfernte. Da stellt sich natürlich eine ganz andere Frage: Wer bestimmt, was Country ist? Der Künstler selbst – er wählte diese Bezeichnung, als er den Track auf Soundcloud hochlud – oder irgendjemand in Nashville, für den ein Song wie „10,000 Hours“, der ganz klar auf einem R’n’B-Beat basiert, vermutlich schon eine Zumutung ist?
Albert Koch
6. POP IST WEIBLICH
Musikerinnen dominieren die Entwicklung der Popkultur.
Sie funktioniert noch, die Popmusik. Zumindest ist ihr Zentralantrieb intakt: die alte Aufgabe, etwas über die Gegenwart zu erzählen, gesellschaftliche Veränderungen zu begleiten und zu verstärken. Zum Beispiel, dass weibliche Stimmen hör- und sichtbarer werden. Auch wenn diese Entwicklung im Pop schon seit einigen Jahren zu beobachten ist: So deutlich wie 2019 ist die steigende Dominanz von Musikerinnen und Songwriterinnen nie gewesen.
Da ist Billie Eilish, die mit ihrem verdichteten Gegenwartspop Feuilleton und Millionen Spotify-Hörer versöhnt. Da ist Lana Del Rey mit ihren ausnehmend eleganten Balladen über den Burnout-Zustand unserer Existenz. Rosalía, die 2019 fast im Alleingang den spanischsprachigen Pop neu definiert hat. Fantastische Indie-Songwriterinnen wie Weyes Blood, Aldous Harding und Angel Olsen. Performance-Grenzgängerinnen wie FKA Twigs und Solange. Oder die affirmative Mainstream-Musik von Ariana Grande und Lizzo.
Dabei stimmt die Erzählung natürlich nicht, dass es plötzlich mehr Frauen gibt in der Popmusik. Da waren sie schon immer. In den letzten Jahrzehnten wurden sie nur seltener an die Oberfläche gespült als ihre männlichen Kollegen. Dass ihre Perspektiven jetzt die Musik in neue Richtungen öffnen, enthält auch das Versprechen: Pop will be alright.
Annett Scheffel
Dieser Artikel erschien erstmals im Musikexpress 01/20: