Von schwulem Country bis freidrehendem Jazz: 6 von unzähligen neuen Trends im Pop 2019
Hier findet Ihr sechs von ungefähr 60 neuen Entwicklungen in der Popmusik, die uns 2019 besonders auffielen.
3. JAZZ, KEIN JAZZ
Ein Genre spielt sich immer freier – kaum irgendwo passiert so viel Neues. 2019 war dann seit Längerem das erste Jahr, in dem keine neue Musik von Kamasi Washington zu hören war. Das mag der Opulenz seines 2018er Werks HEAVEN AND EARTH geschuldet gewesen sein, Washington konzertierte mit dem, was er hatte und was wir uns New Jazz zu nennen angewöhnt hatten, auf Bühnen von Seattle bis Berlin. In der Wiener Arena brach er ein Konzert ab, nachdem sein Vater von einem Security-Mitarbeiter rassistisch angegriffen worden sein soll.
Der neue US-Jazz ist untrennbar mit einer Haltung verbunden
Das war die politische Aussage zwischen Himmel und Erde, die noch einmal daran erinnern durfte, dass der neue US-Jazz untrennbar mit einer Haltung verbunden ist, die sich auf das Narrativ der Civil-Rights-Bewegung der 1960er bezieht. „Jazz besitzt die Fähigkeit, die Härten des Lebens in Musik zu fassen“, hatte Martin Luther King seinerzeit gesagt. Musik, die für ihn dennoch oder gerade deswegen mit „neuer Hoffnung und einem Triumphgefühl“ verbunden war. Man konnte Coltrane, Mingus oder Miles Davis immer auch als Befreiermusik hören.
Von Martin Luther King bis zum neuen Album von Damon Locks Black Monument Ensemble ist es nur ein Katzensprung. Aktivisten-Jazz? Jazz-Aktivismus, schon besser. Ein von 15 KünstlerInnen eingespieltes Live-Dokument, das black American history thematisiert und Samples aus Reden von Bürgerrechtlern in einen Kontext aus Afrobeat, choralem Gospel-Jazz und elektronischen Rhythmen speist. Komponist und Dirigent Locks beruft sich dabei auf die Kraft der Selbstermächtigung im Punk. Als ein Monument der Vielfalt demonstriert das Album WHERE FUTURE UNFOLDS, was musikalisch gerade möglich war, es erschien auf dem Chicagoer Label International Anthem, das wie kein Zweites das Feld beyond Jazz Stück für Stück neu aufrollt.
Eine hochbegabte Untergrundszene
Damon Locks markierte vielleicht die Spitze eines Eisbergs, aber dieser neue so freie wie beziehungsintensive Jazz feierte 2019 an allen Ecken und Enden Erfolge, die bis auf die Rockbühnen von Großfestivals reichten. Ohne dass seine markantesten Vertreter, genial saxofonisierende oder rhythmisierende Botschafter wie Shabaka Hutchings oder Makaya McCraven schon im Mainstream angekommen wären, wie kühnere Prognosen gelautet hatten.
In Chicago und London wird seit ein paar Jahren hochbegabt im Untergrund gearbeitet und vor ein paar Monaten verknüpften sich die Szene- Stars aus beiden Metropolen unter McCravens Führung zu gemeinschaftlichen Sessions (Mixtape WHERE WE COME FROM). Da wurde eine Entwicklung manifest, die Malcolm Gladwells 10.000-Stunden-Regel hätte belegen können; man kann in der ständigen Praxis, im täglichen Spiel in immer neuen Konstellationen neue Höhen der Kunst erzielen. Jazz trat im Zusammenspiel von DJs, Produzenten und Musikern hörbar aus dem akademischen Elfenbeinturm. Und: die junge, gut vernetzte Szene zog auch ein junges Publikum an.
Losgelöst von der Kontrolle der Älteren
Es war 2019 vor allem die Musik von Frauen, die dafür sorgte, dass eherne Jazz-Zuschreibungen nicht mehr funktionierten. Die Improvisatorin Jaimie Branch, die Klarinettistin und Produzentin Angel Bat Dawid, die Saxofonistinnen Nubya Garcia und Cassie Kinoshi und die Trompeterin Sheila Maurice Grey in ihrer gemeinsamen Band Nérija und davon abzweigenden Ensembles (Kokoroko, Seed Ensemble) erklärten Jazz zum Ort von Diversität, Vermischung und Freundschaft.
Das sei die erste Generation von Jazz-Musikern, die sich der Kontrolle der Älteren entziehen konnte, meint DJ, Radio- und Labelmacher Gilles Peterson, der schon Jazz förderte, als die aktuellen Musiker noch in Kinderschuhen steckten. „Das heißt überhaupt nicht, dass sie keinen Respekt für ihre Vorfahren aufbringen, sie haben aber Selbstvertrauen und ein Gefühl für Unabhängigkeit aufbauen können, das ihnen erlaubt, etwas Eigenes zu schaffen. Etwas, zu dem Mitglieder ihrer Generation eine Beziehung aufbauen können.“ Petersons Prognose: In den nächsten zwei Jahren dürfen wir aus den Jazz-Szenen von London und Chicago Meisterwerke erwarten.
Jazz im Verein mit Ambient, Folk, Breakbeats, Kraut- und Psychrock
Wo sich im Zentrum etwas vertieft, beginnt es an den Rändern zu rumoren. Die Landkarte des Jazz ploppte mit einigen Neuerungen auf. 2019 veröffentlichte Petersons Brownswood Label den Sampler SUNNY SIDE UP, der neun Künstler und Bands aus einer lose um das Thema Jazz gruppierten Szene in Melbourne vorstellt. Auf der Compilation KRAUT JAZZ FUTURISM hat Mathias Modica zusammengetragen, was in München und anderen deutschen Städten auf lauter Bindestrich-Spielplätzen passiert; Jazz im Verein mit Ambient, Folk, Breakbeats, Kraut- und Psychrock (C.A.R.). Vielleicht tritt Makaya McCraven in einem Jahr schon mit Damo Suzuki (Can) auf, der vor ein paar Monaten mit der Kölner Band C.A.R. ein sensationelles Konzert gegeben hatte.
Die einflussreichen alten Meister spielten in ihren Bigbands 2019 aber auch nicht für die Galerie. Sie haben nur weit voneinander entfernte Positionen eingenommen. Das Art Ensemble Of Chicago (mit Führungskräften im Alter von 78 und 72 Jahren) brachte ein taufrisches Jazz-Statement auf den Markt, das Fenster zu Afrobeat und Kammermusik öffnete und damit plötzlich wieder im engeren Zirkel der Bewegung stand. Das Sun Ra Arkestra unter der Obhut von Saxofonist Marshall Allen (95) spielte sich live im Full Swing Outfit an einen Ort vor seine eigene Zeit zurück, wo die großen Orchester den Dancefloor-Sound diktierten.
Frank Sawatzki
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